Kaddisch für Oliver Mertins

Der Dichter starb, wir haben die Nachricht erhalten, der Dichter und Freund Oliver Mertins ist nach langer Krankheit, die ihn seiner besten Fähigkeiten geraubt hat, am 15. Januar 2020 gestorben. Sein Liebe zum Leben aber und seine Freundlichkeit, die seinen Wesenskern ausmachten, blieben bis zum Ende unangetastet, er ist friedlich gestorben. Der Tod kommt mit der Wiege. Der Tod vereint. Jeder, der ihn gekannt hat, wird einen anderen Oli, Oliver, Oliveira, wie er in Portugal genannt wurde, erinnern. Wer seine Texte liest, begegnet einem komplexen poetischen Universum, dessen Urknall die Liebe zu einer ungewöhnlich schönen und stolzen Frau war und markiert ist von seinen Reisen ins Offene, Fremde. Er war furchtlos in jeder Hinsicht. Nur einmal sah ich ihn von einer Angst befallen, die ihn für eine halbe Stunde lähmte, in Paris, auf der Rückkehr von unserer ersten Reise nach Portugal, als das Leben seiner Tochter Schaganeh unmittelbar bedroht war. Er war ein Troubadour, dem sich der Weg ins Labyrinth der Ferne geöffnet hatte, das ihn verwandelt, aber unverletzt zurückschleuderte. So kam er auf uns, weisend und verweisend. Beharrlich wies er Wege ins Weite, schüttete das Füllhorn seiner Erinnerungen aus, wenn wir uns ihm nur zuwandten. Er öffnete Wege in uns und heiligte sie durch das Lied. In seinem letzten Text, in Portugal geschrieben, heißt es:

 

"Der Raum ist eng geworden, sagen sie. Dabei ist er weiter, als ich erinnere. Aber die gehen können, das sind wenige. Im Guten und im Bösen gehen. Deshalb ist er weit. Deshalb droht er verlorenzugehen. Weil ihn niemand mehr findet. Aber er wartet, für immer, für jeden mit Füßen aus Augen und Fäusten. Und töten sie den Adler, bringt ihn wieder der Traum. Und töten sie den Traum, bringt ihn wieder der Adler. Du hast das Wort gerufen und bist gegangen. Bis hierher. Dem älteren Traum nach. Du hast am Echo gelernt, zu gehen gegen das Wort. Der Traum bringt den Adler. Der Adler füttert in seinen Jungen den Traum. Der Traum bringt den Adler.“

Jede meiner Reisen, auf denen ich zunächst seinen Spuren folgte, um mich später ins Labyrinth des Hungers vorzuwagen, und von denen ich ein umfangreiches fotografisches Werk mitbrachte, habe ich ihm zu verdanken. Ebenso mein drittes Leben hier in diesem merkwürdigen Land am Westrand Europas ist Ergebnis einer Reise, die ich auf seine Bitte hin mit ihm und seiner Tochter Schaganeh unternahm, um ihr postoperatives Trauma nach einer Gehirnoperation zu lindern. Es ist eine meiner größten Freuden, sie heute gesund zu wissen. Und eine schmerzliche Erinnerung, wie er in Vila Real auf ein Denkmal wies, das einen Feuerwehrmann mit einem Kind auf dem Arm zeigt, auf dessen am Sockel angebrachtes Schild zu lesen ist: Ich gebe mein Leben für deins. Jahre, bevor seine Krankheit diagnostiziert wurde, war er zusehends krank und war sich dessen bewußt.

In einer jener langen Nächte in der Veranda unserer Wohnung in Vila Nova de Gaia, von der aus er Vögel, Fledermäuse, und Nachtfalter beobachtete, sagte er unvermittelt: 

„Wenn sie irgendwann anfangen, Unsinn über mich als Dichter zu reden, sag ihnen, daß mich der Wald zum Dichter gemacht hat. Der Wald!“

„Schwester Mond. Ihr Nymphentanz im Drachensee. Den Tee also in die Hand, den `Drachen Phönix´, soviele Kugeln grüner Teeblätter, gerollt jeweils Blatt für Blatt um eine Jasminblüte, und beim dritten Aufguß ab durch die Hölle, dem Licht entgegen, wie so oft seit 21 Jahren –  

Wir sind hier schon später…“  

Ja, ein gelebtes und ein erlittenes Leben später, die einander durchdrangen.

Von meinem Leben, seinen Träumen unterm pflaumenblauen Sommer blieb bloß mein Bart aus Rauch und die zerbrochene Lende, kaum mehr die Taubentöne, wenn Tage im nahen Meer aufschäumen, von Fallwinden geblasen auf dem Rohrwind des Abends, der lila Staub der Lavendelfelder, ein mundvoll dürres Laub und weiße Schreie von Felsenhähnen unter der Stundenbrandung, nur der Durst nach Dir, ein Auge in mir, lidlos, unstillbar…“ (Was Claude erzählt; incubus versus phoinix)

 

Wir werden ihm, dem Dichter Oliver Mertins, den wir immer vermissen, in den Bergen Portugals einen Hain aus Bergahorn pflanzen, zusammen mit Freiwilligen die ihn nicht kannten, aber wie er Lieder, Wald und das Leben lieben.

 

Von Oliver Mertins wurden folgende Bücher veröffentlicht:


Oliver Mertins mit seiner Tochter Schaganeh in den Bergen von Geres, Portugal
Oliver Mertins mit seiner Tochter Schaganeh in den Bergen von Geres, Portugal

Zu Oliver Mertins habe ich ein paar Erinnerungen aus glücklicheren Tagen. Mitte der 1980er Jahre tauchte im Café Mistral, an der U-Bahn-Station Gneisenaustraße, einer Gruppe talentierter wie motivierter "Jungdichter" auf, zu der unter anderem auch Sherko Fatha gehörte. Ich erinnere mich an viele Abende, die meisten verliefen in angenehmster Weise und gegenseitiger Inspiration.  Das Foto, das Oliver auf dieser Seite zeigt.

http://www.galrev.com/material/seiten/mertins.html stammt aus jener "geilen" Zeit im  Café Mistral. Es wurde von seinem  engsten Vertrauten Bernd Markowsky aufgenommen. Auf das Kaddisch folgt sodann Oliver Mertins durch die verzehrende Krankheit Fragment gebliebenes kleines Prosawunder. Sein beeindruckender Seelensound entspricht dem hohen ästhetischen Schaffensprozess der Poetik OLiver Mertins, dieses wirklich singulär zu nennenden Poeten.

Axel Reitel.

https://collegiumnovum.blogspot.com/2020/01/gestorben-zum-tod-von-oliver-mertins.html

Danke, Axel.

 

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Kommentare: 1
  • #1

    HJK (Dienstag, 09 Juni 2020 19:23)

    Ein großartiger Dichter, dessen Werk ich bis vor kurzem nicht kannte. Nun werde ich es Stück für Stück erkunden. Es hätte die Würdigung einer breiteren Öffentlichkeit verdient.