Wikipedia/Adjektiv/Adverb: »Als souverän bezeichnet man…
die sichere oder überlegene Beherrschung einer Aufgabe.
Beispiel: Eine souveräne Darbietung –
d. h. eine perfekt beherrschte Darbietung.«
An einem klaren Wintertag des Jahres 1993 ging ich mit meinem Freund Oliver Mertins zum Rosa-Luxemburg-Platz, ins Haus der Parteileitung der PDS. Wir hatten eine Verabredung und wurden in ein Büro geführt, wo wir uns an einen kleinen runden Tisch setzten: »Er wird gleich kommen.« Er kam dann federnden Schritts, mit ausgestreckter Hand, etwas erstaunt und suchend um sich blickend. Doch derjenige, der das Treffen verabredet hatte, war »unabkömmlich«. Er nahm das gelassen professionell. Wir stellten uns vor, ein Schriftsteller und ein Fotograf, die um ein Interview baten. Kein Problem. Was folgte, war zunächst der übliche Tlön1-talk, bis Oliver ohne jede Vorbereitung folgende Frage stellte: »Herr Gysi, Jürgen Fuchs beschuldigt Sie, neben ihrer sicher verdienstvollen Tätigkeit als Rechtsanwalt in der DDR auch vertrauliche Informationen und Gesprächsinhalte an die Staatssicherheit weitergegeben zu haben. Es gäbe eine Reihe von unbezweifelbaren Indizien. Können Sie uns dazu etwas sagen?« Augenblicke später machte ich ein Foto (Titelfoto), das ihn fassungslos verstört zeigt, die Maske verrutschte. Er rannte förmlich aus dem Büro, die Tür einen Spalt offen lassend. Er musste sich beraten, das Büro seines Ziehvaters Lothar Bisky lag schräg gegenüber. Mehrmals lugte der Ex-Anwalt der Verfolgten und Entrechteten durch den Türspalt, ob wir denn etwa noch da wären, um sich endlich zu entschließen, wieder aufzutreten. Die Brille saß wieder gerade, das Lächeln allerdings noch etwas unsicher. Zu dieser Frage würde er keine Stellung nehmen, es gebe ein schwebendes Verfahren.
»Wenn’s zum Prozess kommt, nimm einen Schurken zum Anwalt.« Diesem Rat Brechts mussten alle politischen Gefangenen in der DDR unfreiwillig folgen. In meinem Fall war
das Rechtsanwalt Wolfgang Schnur, der für die Kirche tätig war, mit besonderem Kontakt zu Manfred Stolpe, wie er erklärte. Bei seinem ersten Besuch im Stasigefängnis Karl-Marx-Stadt sah er sich,
nachdem wir in einem winzigen Raum allein gelassen waren, bedeutungsvoll um und wies auf die Wände und die Lampe und bedeutete mir, ich solle die mir wichtigen Fragen und Informationen auf einen
Zettel schreiben. »Wenn’s zum Prozess kommt«, antwortete ich. Grüße an Freunde und meine Familie draußen übermittelte er umstandslos. Nicht viele werden sich an seinen Sturz im freien Fall
erinnern. Die Zeit rast und geht über so etwas gewöhnlich hinweg. Wer aber zurückblättert im Almanach des Gewöhnlichen, findet Erstaunliches:
›Die Gunst der Stunde‹. Die Medienkampagne gegen den DDR-Oppositionspolitiker Wolfgang Schnur
Die Stimmung war günstig: Angeheizt durch die fieberhafte Suche nach allem, was wie Privilegien oder Amtsmißbrauch aussah, ließ sich schon aus der Vermutung, auch ein führender Kopf der DDR-Opposition habe sich rechtswidrig Vorteile verschafft, politisches Kapital schlagen.
So griffen das Neue Deutschland und die Junge Welt, die publizistischen Blashörner der wendegebeutelten SED-PDS und ihrer ehemaligen Jugendorganisation FDJ, gierig zu, als der Rostocker Rechtsanwalt und Oppositionspolitiker Wolfgang Schnur Mitte Dezember durch einen Leserbrief in der Ostsee-Zeitung des Privilegienmißbrauchs bezichtigt wurde.
Unter Ausnutzung seiner Anwaltsstellung, so der Vorwurf, habe er sich illegal die Wohnung eines Mandanten verschaffen und damit gleichzeitig einer kinderreichen Familie den dringend benötigten Wohnraum nehmen wollen.
Der Rechtsanwalt ›nutzt die Gunst der Stunde, um noch schnell sein Schäfchen ins trockene zu bringen‹, stimmte die Junge Welt, eine der auflagenstärksten Zeitungen in der DDR, ihre Leser in einem zweispaltigen Kommentar auf die publizistische Hatz gegen Schnur ein, der jahrelang politisch Verfolgte verteidigt hatte und gerade zum Vorsitzenden der Oppositionspartei Demokratischer Aufbruch (DA) gewählt worden war.
Ohne den Beschuldigten zu fragen oder auf seine öffentlichen Erklärungen vor dem DA-Parteitag Mitte Dezember in Leipzig einzugehen, wiederholte das FDJ-Blatt – in den Tagen danach vom Neuen Deutschland assistiert – die Vorwürfe gegen den Rechtsanwalt.2
So schrieb der Spiegel am 8. Januar 1990. Nur neun Wochen später heißt es dann:
›Das war ’ne Top-Quelle‹.
Schwere Vorwürfe gegen den Chef des ›Demokratischen Aufbruchs‹ in der DDR Wolfgang Schnur. Der Anwalt – und Verbündete Kohls im Wahlkampf – soll über Jahre bezahlter Mitarbeiter der
Staatssicherheit gewesen sein, Deckname ›Torsten‹. Das behaupten Aktenkenner in Rostock und zwei frühere Stasi-Offiziere.
Mit dem Gewicht seines Namens und der Autorität seiner Ämter verbürgte sich Helmut Kohl im DDR-Wahlkampf für Sache und Personen der konservativen ›Allianz für Deutschland‹. An der Seite der drei Vorsitzenden des von ihm zusammengezimmerten Bündnisses von Ost-CDU, Demokratischem Aufbruch (DA) und Deutscher Sozialer Union (DSU) pries er in Erfurt, Chemnitz, Magdeburg den Wählern die Verläßlichkeit seiner neuen Parteifreunde Lothar de Maizière (Ost-CDU), Wolfgang Schnur (DA), Hans-Wilhelm Ebeling (DSU).
›Das sind Männer‹, so Kohls Standardsatz, ›die Ihr Vertrauen verdienen‹. Daß er da vielleicht die Unwahrheit sprach, wußte der Kanzler seit längerem. Am vergangenen Freitag in Rostock fehlte DA-Chef Schnur an der Seite Kohls. Schnur habe einen Kreislaufkollaps erlitten, hatte seine Partei am Tag zuvor mitgeteilt. Es sah nach Flucht in eine Krankheit aus – um zu retten, was vom Ruf des Kohl-Verbündeten und seiner Partei so kurz vor der Volkskammerwahl noch zu retten sein mag.
Schnurs Ruf als Anwalt von Bürgerrechtlern und Mann der evangelischen Kirche im SED-Staat und, seit Sommer letzten Jahres, als Demokrat und Chef des DA geriet in Gefahr, seit ein unabhängiger Untersuchungsausschuß von nicht-parteigebundenen Bürgern in Rostock auf Akten des Ministeriums für Staatssicherheit gestoßen war, wonach der Jurist und Kirchenfreund Schnur für viele Jahre Stasi-Spitzel war und dafür auch Orden erhalten hat.
Von seinem Krankenlager aus ließ Schnur am Donnerstagmittag – nach einer Krisen-Nachtsitzung des DA-Vorstands – von DA-Minister Rainer Eppelmann eine Mitteilung verlesen: ›Ich erkläre hiermit verbindlich, ich habe nie für die Staatssicherheit gearbeitet, ich habe nie einen Orden des Ministeriums für Staatssicherheit empfangen.‹
Eppelmann, der sich selber vor Ort kundig gemacht hatte, räumte zugleich ein, die Untersuchungskommission genieße ›in Rostock allgemeine Achtung und Anerkennung‹. Und ›daß Wolfgang Schnur Unterhändler der Staatssicherheit war‹, auch dies gab Eppelmann unter Bezug auf die Rostocker Rechercheure zu, ›das gibt diese Aktenlage, soweit sie das überblicken können, ganz deutlich her‹.
Was tun? Den entscheidenden Zeitgewinn bis zur Wahl mag Schnur, wenn er denn zu Recht beschuldigt wird, ein Beschluß des DDR-Ministerrats verschaffen, daß alle Stasi-Akten erst einmal – bis zu einem Gerichtsverfahren – unter Verschluß bleiben sollen; und wenn er zu Unrecht verdächtigt wird, müßte er sich so lange gedulden. Im Vertrauen darauf lehnte es der DA-Chef ab, dem Spiegel zu Hinweisen auf seine Stasi-Aktivitäten Rede und Antwort zu stehen. Schnur: ›Zeigen Sie mir die Akten.‹3
Dem IM »Torsten« wurden die Akten gezeigt. Seitdem treibt er, wohin der Marktwind ihn weht.
Vom Sommer 1990 an arbeitete ich im BasisDruck Verlag, jenem Verlag, der mit den allerersten Zusammenfassungen von Dokumenten der Staatssicherheit in Buchform und dem Abschiedssatz Mielkes »Ich liebe Euch doch alle« als Titel in Erscheinung trat,4 im Prenzlauer Berg, einem von Kneipen, Mythen und Kultur geschwängerten Grund. Um zwei Ecken residierte der Galrev Verlag, gegründet von Sascha Anderson. Da ich Dichtung liebe und neugierig bin, war es unvermeidlich, dass ich ihm eines Tages begegnete. Er hatte eine Art kleiner Fabrik nach dem Vorbild Andy Warhols gegründet und eine Gruppe talentierter Künstler um sich geschart, an die er Bedeutung, Geld und Hoffnung austeilte. Er stank durchaus nicht, agierte souverän, und doch war etwas an ihm fragwürdig, er wirkte opak und gleichzeitig zerschlissen, fahrig. Wie seine Prosatexte, in die postmoderne Theoreme wie raunende Zaubersprüche eingewebt waren. Im Herbst 1991 veranstaltete der BasisDruck Verlag eine Lesung mit einem jungen Autor, der seine Verstrickung in das Stasinetz beschrieb.5 Sascha Anderson war da, zum ersten Mal bei einer Lesung dieses Verlages, und verstrickte sich seinerseits im Halbdunkel des Auditoriums in der sich anschließenden Diskussion in abstrusen Vorwürfen an den Autor. Er sei ein Lügner und habe sich das alles nur ausgedacht. Von diesem Augenblick an war meinen Kollegen und mir klar, dass Anderson »dabei gewesen« war. Wochen vor Biermanns »Arschloch«-Rede6 und der ausführlichen Aufdeckung von Andersons Spitzeltätigkeit durch Jürgen Fuchs im Spiegel.7 Nach jener Rede, allerdings vor Veröffentlichung des Spiegel-Artikels zog Anderson seinen letzten Trumpf, er scharte im Literaturklub »Johannes R. Becher« die Elite der DDR-Schriftsteller zusammen. Ich erinnere Volker Braun, Adolf Endler und Elke Erb auf dem Podium. Die Show begann zäh, Anderson war nicht in Form, er versuchte sich bescheiden zu geben. Schließlich ertrug ich es nicht mehr und fuhr im vollgestopften Saal meine Stimme gleichzeitig mit der geöffneten Hand aus: »Sascha, hör doch endlich auf mit diesem Schwachsinn. Sag’ einfach uns, was war. Sag‹ die Wahrheit!« Es folgte ein langer Moment der Stille, in dem es möglich schien, dass Sascha sich besinnt und den in sich Verborgenen freigibt. Möglicherweise auch fand er nur keine passende Antwort auf diese persönliche, ganz unpolitisch vorgebrachte Herausforderung. Neben mir hörte ich giftiges Zischen: »Der gehört doch auch zu Biermanns Gerechten.« Viele glaubten damals, die eigenständige DDR-Literatur gegen ihre böswilligen Verleumder aus dem Westen verteidigen zu müssen. Volker Braun zerstörte schließlich die Magie des Augenblicks, indem er sagte, dass Sascha doch wohl am besten wissen müsse, was wirklich wahr sei. Und sich an ihn wendend fragte er ihn väterlich mild: »Sascha, hast Du für den Staatssicherheitsdienst gearbeitet?« Und Sascha konnte unisono mit Anderson, wenngleich mit kleiner Verzögerung antworten: »Nein. Nein.« Das klang wie Stottern, doch war er auf die Bühne zurückgekehrt und gewann Souveränität.
Bei allen Unterschieden im Einzelnen, zeigen diese Fälle doch die ihnen zugrundeliegende gemeinsame Mechanik:
– Sie wissen genau, was sie getan haben.
– Sie leugnen, solange es irgend möglich ist.
– Sie leugnen aus Angst vor Selbstbefragung.
–
Sie schützen sich nach außen und innen mit hehren Absichten, hohen Ambitionen und öffentlichen Ämtern.
Das erzeugt ein weiteres Angstfeld, das der Angst vor öffentlicher Demütigung und sozialer Ausgrenzung.
Gregor Notar Gysi hat kühl professionell alle, die ihn mit Fakten zu seiner Zusammenarbeit mit der Staatssicherheit konfrontierten, mit einer Flut von Klagen überzogen. Zunächst Jürgen Fuchs, der in den Stasi-Akten Robert Havemanns zahlreiche Nachweise fand, dass dessen Rechtsbeistand Gysi gleichzeitig für die Stasi tätig war. Danach Journalisten, die sich mit seiner Vergangenheit befassen bis hin zur Gauck-Behörde. Dies ist der Grund, weshalb es ihm unmöglich war, seiner Fraktion zu gestatten, Gauck zum Bundespräsidenten zu wählen. Sein Auftritt vor dem Bundestag nach der Anhörung des Immunitätsausschusses8 war alles andere als souverän, und seinem Abgang mit Stolperer auf der Eselstreppe hätte man leicht ein »da geid er hin« nachschicken können, bliebe da nicht die Frage, wie so viele immer noch an ihn, seine Mission und an seine Unabkömmlichkeit als Politiker mit Hoffnungsschimmer glauben können. Gewiss, er hat ein Netz von Abhängigkeiten um sich geschaffen, doch das erklärt noch nichts, das ist politisches Alltagsgeschäft.
Der Fall Gysi unterscheidet sich von allen anderen schon durch die Maßstäbe seiner Ambitionen. Er ist nicht nur ein begabter und zuweilen unterhaltsamer Redner, vor allem ist er ein Spagatkünstler. Er hat die einstige Staatspartei SED beerbt und gleichzeitig schwingt er sich zum Erben ihrer kritischen Gegner, das heißt, seiner einstigen Klienten auf. Er braucht ihren kritischen Geist, ihre Reputation, ihr Anderssein. Eine historische Absurdität, zweifellos. Doch er will den Abgrund zwischen seinen geheimen Auftraggebern und denen, die er insgeheim verriet in eigener Person überbrücken und so seinen Verrat neutralisieren. Ein utopisches, monströses Vorhaben, das voraussetzt, dass seine Klienten – gestorben sind. Auch geistig. Dass kein Hahn mehr nach ihnen kräht. Und das ist in meinen Augen der springende Punkt. Robert Havemann und Rudolf Bahro waren, wie viele andere auch, linke Kritiker der DDR, und vor allem dies wurde ihnen von ihren Feinden im Staatsapparat nicht verziehen, denn das nahm denen ihren progressiven Nimbus. Sie waren in Tat und Wahrheit erzkonservativ, von Wahnvorstellungen besessen und nicht zuletzt durch jahrzehntelange negative Auswahl weitgehend denkunfähig, was sich in einem weitverbreiteten Glauben an extreme Lösungen manifestierte: je schlimmer, desto besser. Auf meinen Streifzügen durch die Nachwende-DDR kam ich in den VEB Elektrokohle. Ein finsterer Ort. Männer, die mit nackten Oberkörpern ungeschützt in dichten Kohlestaubwolken arbeiteten. Der Pförtner hatte mich ins Büro der Gewerkschaftsleitung geschickt, um eine Genehmigung zur Besichtigung einzuholen. Dort saß verloren ein kleines Männchen und schaute aus dem Fenster. Es handelte sich um den Stellvertreter. Der Vorsitzende sei nicht da. Er sei zugleich der Vorsitzende der Bezirksgewerkschaftsleitung und zu einer Generalversammlung gerufen worden. Wahrscheinlich werde er nicht wiederkommen. Er müsse sich wegen Unterschlagungsvorwürfen verantworten. Während er das sagte, schaute er weiter aus dem Fenster. Dann wandte er sich plötzlich um und sagte dies: »Ich bin für Marktwirtschaft. Aber ohne Wenn und Aber.« Dem Manne könnte geholfen werden. »Der Osten verwestlicht, der Westen veröstlicht«, wie Lutz Rathenow sagte.
Wenig später, im Sommer 1990, sah ich am Rande einer der gelegentlichen Demonstrationen auf dem Alexanderplatz das passende Gegenstück, einen geparkten Rolls-Royce mit großem Nummernschild, auf dem unübersichtlich die Parole prangte: »Euer Elend kotzt mich an!« Ich machte ein Foto und versuchte dieses Objekt durch bloße Anschauung zu zerstören. Will sagen, ich starrte es fassungslos an, als ein schon etwas älterer, gut gekleideter Mann heranschlenderte, sich anschaute, was ich fotografiert hatte, und einige Meter entfernt stehen blieb. Ich war einfach sprachlos empört, und so habe ich diesen Mann erst später als sein Leser kennengelernt. Er beschreibt dieses Auto mit dem HassSchild und durchdringt es gedanklich im letzten Abschnitt seines viel zu wenig gelesenen Buches »Hitler als Vorläufer. Auschwitz – der Beginn des 21. Jahrhunderts?«.9 Sein Autor Carl Amery starb 2005, war Umweltaktivist und Mitbegründer der Grünen. Zu deren unveräußerlichen Gründungsbeständen als Partei gehörte, dass die grüne Bewegung, Bürgerinitiativen und Umweltschutzgruppen die Basis der Partei und ihr Rückgrat bilden. Politisch sind es neben der Ablehnung der Atomenergie die Forderung nach dem Austritt aus der NATO und die Ablehnung der Stationierung amerikanischer Mittelstreckenraketen in Deutschland, das war 1983. Nach dem Fall der Mauer wurden die deutschen Sicherheitsprobleme dem Outsourcing unterworfen, der Riss in der Weltschüssel wurde hinter den Horizont verschoben. Und zwölf Jahre später, im Jahr 2001 wurden wir Zeugen der Vorbereitung von zwei Angriffskriegen auf Grundlage falscher Informationen durch einen amerikanischen Präsidenten, der durch einen juridischen Staatsstreich an die Macht kam. Man muss sich immer wieder in Erinnerung rufen, dass zum Kriegsgrund gegen den Irak nicht erklärt wurde, dass Saddam Hussein ein Diktator war. Davon gab und gibt es schließlich, auch mit amerikanischer Stützung, viele, sondern dass der Irak Massenvernichtungswaffen produziert habe und versteckt halte. Wo sind sie geblieben, warum ließen sie sich nicht auffindbar machen? Solch ein erstklassiger Kriegsgrund, die Zustimmung der UN moralisch abgepresst, und einfach nichts? Jedenfalls konnte der Krieg beginnen und wurde schnell gewonnen. Und findet kein Ende mehr. Wo sich der Kriegsgrund nicht auffinden lässt, kann es wohl auch kein Ende geben. Nachdem die Bundesrepublik sich zur Beteiligung am Krieg in Afghanistan gezwungen sah, ist sie in einen Vasallenstatus zur USA geraten, aus dem sie aus eigener Kraft nicht mehr herausfindet. Wir haben die Aufdeckung von allgemein verbreiteter Folter in amerikanischen Gefängnissen und Gefangenenlagern miterlebt, die auch in deutschen Medien lange Zeit als »folterähnlich« verharmlost wurde. Die Foltermethoden unterschieden sich von denen ihrer Kriegsgegner durchaus, vor allem durch ihre wissenschaftliche, systematische und kalte Anwendung. Gefühle schießen bei Peinigungen immer von den Opfern herüber, sie bleiben aber in diesem Umfeld Überschuss und peinlich. Es ist schon einiges über die Fotosammlung moderner Barbarei gesagt worden, die in allen Medien um die Welt ging, doch möchte ich auf einen auffallenden Punkt hinweisen. Den Rückgriff auf christliche Symbolik in Verbindung mit neuzeitlichem Zubehör: der mit ausgefranstem Überwurf bekleidete Gefangene, die schwarze Kapuze über den Kopf gezogen anstelle einer weißen Spitzmütze auf ihm, mit ausgestreckten Armen wie gekreuzigt auf wackligem Podest stehend, an den Fingerspitzen die Elektroklammern und Verbindungsdrähte. Die Aufnahmen wurden wohl nicht zum Zweck der Veröffentlichung hergestellt, doch irgendeinen Sinn müssen sie gehabt haben. Auf jeden Fall spiegeln sie einen Bilderkanon wider und als Ergebnis die Entmenschlichung des anderen durch konditionierte visuelle Verzerrung. Wichtig ist, dass das Opfer kein Gesicht hat und nicht zurückblicken kann. Diese Bilder bezeugen weniger die Leiden der Opfer, sondern vielmehr die aufgepeitschte und schreiende Phantasieblindheit ihrer Peiniger.
In Kaschmir berichtete mir der Überlebende eines Brandes auf dem Markt von Sopor Folgendes: »Es war schon das dritte Mal, dass sie den Markt umstellten, Benzin ausgossen und unsere Marktstände anzündeten. Sie ließen niemanden hinaus. Wer fliehen wollte, wurde erschossen. Ich überlebte nur, weil mein Stand nicht vollständig niedergebrannt war, ich verkaufte Säfte und Trinkwasser.« Und dann beschwörend, dass ich ihn ja verstehe: »Die Inder verbrennen uns, damit wir wenigstens im Tod zu ihrem Glauben finden.«
Ein ehemaliger amerikanischer Präsident hat eine neue Weltordnung nicht nur versprochen, sondern unwiderruflich eingeleitet. Im Schatten eines allumfassenden »Krieges gegen den Terror« konnte und kann in allen Weltgegenden Krieg geführt, gemordet und gefoltert werden. Die Büchse der Pandora ist geöffnet, wer vermag sie wieder zu schließen? Während wir in Europa versuchen, die Argumente, das Für und Wider in immer neuen Schlaufen gewissenhaft abzuwägen, Milliarden hin- und her zu transferieren, die uns aufgetragenen Hausaufgaben ordentlich auszuführen, läuft uns die Zeit davon.
Ich habe noch einmal Bücher meiner Jugend befragt, Robert Havemanns »Fragen, Antworten, Fragen« und Bahros »Alternative«, und nach Anknüpfungspunkten gesucht. Havemanns Stimme ist immer noch lebendig, die Stimme eines Menschen, der beizeiten das Maul aufmachte, wo es notwendig war, an dem seine Zeit nicht spurlos vorüberfloss und der sich dafür revanchierte, indem er in ihr seine Spur eingrub. Ein immer noch anregendes Buch, dessen Irrtümer spannender sind, als jene Mainstream-Weisheiten, die an allen Ecken billig zu haben sind. Es enthält Analysen, die gültig bleiben und es bleibt sein stetig erneuertes Insistieren auf bürgerlichen Freiheiten als Grundlage substanzieller Entwicklung. Bahro wollte das sozialistische Projekt mit dem ökologischen Gedanken verbinden, was bitter nötig war und trug ihn (diesen Gedanken) so in die Linke. Er ging nach seiner Haftentlassung konsequenterweise zu den Grünen. Was mir beim Wiederlesen am deutlichsten auffiel, ist beider mahnender, drängender Ton. »Es ist hohe Zeit geworden« – »Jedes Jahr, das wir weiter versäumen...« – »Wir dürfen uns der Hoffnungslosigkeit nicht ausliefern.« – »Aber die Zeit drängt nun.«
Und so sehe ich sie als tragische Gestalten, denn was sie eigentlich wollten, den als Alternative verstandenen demokratischen und
ökologischen Umbau des Staatssozialismus, seine Transformation in eine von politischen wie ökonomischen Drangsalen befreite Gesellschaft, blieb unerfüllt. Wer sie umstandslos beerben und einfach
dort weitermachen will, wo sie mit Verve scheiterten, ist ein Trickbetrüger.
Meiner Meinung nach leben wir in einer Zeit, die ihr Antlitz noch nicht enthüllt hat. Es ist auch noch nicht wichtig, sie zu benennen. Was allerdings eine der Ideen der Postmoderne im Sinne Lyotards betrifft, nämlich das Ende der Großen Erzählungen, so stimmt es, dass einige Erzählungen mittlerer Reichweite nicht mehr plausibel sind: etwa die marxistische Erzählung, die aus dem primitiven Kommunismus die Feudalgesellschaft, dann die kapitalistische Gesellschaft und schließlich den Sozialismus hervorgehen lässt – eine Art Interpretation der menschlichen Geschichte.
Das ist die Stimme Edgar Morins, französischer Résistant, Philosoph und Soziologe. In seinem Essay »Lob der Metamorphose« sagt er:
Das Erdsystem kann sich nicht organisieren, um seine lebenswichtigen Probleme zu lösen: nukleare Gefahren, die sich mit der Ausbreitung und möglicherweise der Privatisierung der Atomwaffe verschlimmern; Abbau der Biosphäre; Weltwirtschaft ohne wirkliche Regulierung; Rückkehr von Hungersnöten; ethnisch-politisch-religiöse Konflikte, die sich tendenziell zu Zivilisationskriegen entwickeln.
Die Verstärkung und Beschleunigung all dieser Prozesse kann als Auslösung einer gewaltigen negativen Rückkopplung betrachtet werden, durch die ein System unwiederbringlich zerfällt. . .
Wollen wir die Auflösung des ›Systems Erde‹ verhindern, müssen wir unsere Denk- und Lebensweise ändern. Wenn ein System nicht in der Lage ist, seine lebensbedrohenden Probleme zu bewältigen, gibt es zwei Möglichkeiten: Es geht ein und löst sich auf, oder es gelingt ihm, ein Metasystem hervorzubringen, um seine Probleme zu lösen – es vollzieht sich eine Metamorphose.10
Es ist eben durchaus nicht ausgemacht, ob nicht auch wir tragisch scheitern werden. Wir besitzen genügend wissenschaftlich fundierte Informationen, um zu wissen, dass uns ein limitiertes Zeitfenster bleibt, um die bevorstehende ökologische Katastrophe, den begonnenen und sich in gegenseitig verstärkenden Effekten heranrasenden Klimawandel aufzuhalten. Dieses Zeitfenster schließt sich.
Was tun? Die immer gleiche Frage in Zeiten der Krise. Ich denke, dass die Widerstandserprobten aus DDR-Zeiten auch hier eine besondere Aufgabe haben. Niemand von uns hat damals geglaubt, dass unsere Kraft reichte, dieses harsche Imperium zu Veränderungen zu zwingen. Doch wuchs in jedem von uns die Überzeugung, dass Veränderungen unumgänglich waren, und diese Überzeugung wurde schließlich allgemein und unüberwindlich. Womit wir es heute zu tun haben, ist weniger greifbar und viel abstrakter, noch. Die schwarze Milch der Frühe, von der wir gekostet haben, wollen wir sie an unsere Nachkommen weitergeben? »Einmal, wenn da Zeit sein wird …« Das ist Brechts hohes Lied der Hoffnung, seine Utopie.
Es ist hohe Zeit, Bäume zu pflanzen. Wie Joseph Beuys das am Ende seines Lebens getan hat, mit je einer Basaltstele zur Seite, als Stimme, die den Baum verteidigt. An keine einfachen Auswege glauben. Doch wir können unsere Erfahrung in Gruppenbildung (im schweren Fall), in Strukturbildung und Zusammenschlüssen nutzen und weitergeben, unseren krassen Optimismus, der nicht aus zwei nein ein ja macht, sondern nein und ja sagt, wo es nötig ist; unsere Fähigkeit zur Antizipation, unseren vorausschauenden Ungehorsam, unsere als Rufer in der Wüste erprobte beharrliche Beredsamkeit. Und es gilt einmal mehr dem Wort »Schwerter zu Pflugscharen« Gehör zu verschaffen, den modernen ferngesteuerten Kriegen die Zustimmung zu verweigern. Sie sind menschliche, ökologische und weltökonomische Katastrophen und bereiten weitere Katastrophen vor. Jedem Krieg, wo auch immer, unter welchem Banner auch immer geführt, konsequent unsere Zustimmung verweigern. Die lebendige Stimme des Andersen verteidigend und unsere eigene.
Vila Nova de Gaia 2016
Anmerkungen
1) Tlön, Uqbar, Orbis Tertius, eine Erzählung von Jorge Luis Borges, berichtet,
wie Borges und sein Freund Adolfo Bioy Casares in einer einzigen Ausgabe der Anglo-Amerikanischen Enzyklopädie einen Eintrag unter dem Titel Uqbar entdecken. In keinem anderen Nachschlagewerk –
weder in anderen Ausgaben dieser Enzyklopädie noch in anderen Lexika oder Atlanten – findet sich das Uqbar genannte Land. Die beiden Freunde spekulieren über den Ursprung dieses Lexikonartikels.
Dieser Artikel ist die erste Spur von »Orbis Tertius«, einer massiven Verschwörung von Intellektuellen, sich eine Welt namens »Tlön« auszudenken. Dabei verändert sich auch die Erde: Im Fortgang
der Geschichte begegnen dem Erzähler immer mehr Artefakte aus Tlön und Orbis Tertius, am Ende wird die Erde zu Tlön. Vgl. Wikipedia, Artikel zu »Tlön, Uqbar, Orbis
Tertius«.
2) In: Der Spiegel, Nr. 2 v. 8.1.1990, S. 25.
3) In: Der Spiegel, Nr. 11 v. 12.3.1990, S. 18.
4) Vgl. Armin Mitter; Stefan Wolle (Hg.): Ich liebe euch doch alle! Befehle und Lageberichte des MfS. Januar – November 1989. Berlin 1990.
5) Vgl. Andreas Sinakowski: Das Verhör. Berlin 1991.
6) Vgl. Wolf Biermann: Der gräßliche Fatalismus der Geschichte. Büchnerpreisrede, [19.10.1991]. In: Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung. Jahrbuch 1991. Darmstadt 1992, S. 144–154.
7) Vgl. Jürgen Fuchs: Landschaften der Lüge (Spiegel-Serie; I–V). In: Der Spiegel, Nr. 47–51 v. 18.11.–16.12.1991.
8) Deutscher Bundestag.
Plenarprotokoll 16/162 v. 28. Mai 2008, S. 17093–17106.9
9) Eine kluge Rezenension findet sich in ad-sinistram.. " . . . So legt der Autor dar, wie Hitler als Kind seiner Zeit, dazu überging, in der „grausamen Königin aller Weisheit“ – nach einem Zitat in Hitlers „Mein Kampf“ -, den einzigen Leitgedanken seiner Politik zu erkennen. Er sei der Feldherr dieser Königin gewesen, die man als den pervertierten Gedanken des Darwinismus verstehen muß. Die Königin ist jener blutrünstige Umstand, der sich für die Menschen des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts, als Kampf auf Leben und Tod, der sich in der Natur manifestiert, als Grundprinzip des Daseins abzeichnete. Selbst menschliche Gesellschaften würden diesem Prinzip unterliegen und die Politik habe dieser kruden Metaphysik Folge zu leisten und den Kampf dahingehend zu führen, der eigenen Rasse das Überleben zu sichern. Rassischer Sozialdarwinismus: das ist die hitleristische „grausame Königin aller Weisheit“.
Hatte man das seinerzeit erstmal erkannt, so war der nächste Schritt, in allem was mitmenschlich, humanistisch, nächstenliebend erschien, ein höchst unnatürliches Denken zu erkennen, weil es der „grausamen Königin“ so vollkommen widersprach. . .
Es geht dem Autor des Essays nicht darum, die großen und kleinen Abkehren von der Demokratie, wie wir sie heute zahlreich kennen, mit dem allseits beliebten Schrei „Das ist ja Faschismus!“ zu untermalen. . . Was er formuliert hat ein gewichtigeres Motiv, zeichnet nicht einzelne Faschisierungen nach, sondern den Grundkonsens einer ganzen Gesellschaft. Er spricht nicht von der Rückkehr des Faschismus, sondern von der Wiederkehr der Hitlerformel, von der Wiederbelebung von Hitlers „grausamer Königin“. Für Amery ist nicht von Bedeutung, ob diese Formel in einer Diktatur oder in einer Demokratie angewandt wird – es bedarf keines Tyrannen, um umzusetzen, was schon lange abgeschlossen schien.
10) Edgar Morin: Eloge de la métamorphose. In: Le Monde v. 9.1.2010; dt. u.d.T. Lob der Metamorphose. In: Lettre International 2010, Nr. 88.
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