Reise zum Beginn einer Zeitenwende
O Welt, wirklich, deine Wege sind unbeschreiblich,
mit Gefängnissen und feuchten Städten und Eisenbahnen.
Das weiß, der dich befuhr, so wie ich:
Mit einem Auge aus Glas,
um das andere streiten sich noch
ein Kind und ein Prophet.
Heberto Padilla
Die nächtlich dunkle Straße entlang, durch baumlose Landschaft. Den Schal fester gezogen, den Atem hinterm hochgestellten Kragen gewärmt, den Griff des schwarzen Kunstlederkoffers fester gepackt. Die Schöße des Wollmantels schlugen gegen die Waden, es war bald dreiundzwanzig Uhr, ich beeilte mich, zur Grenze zu kommen; wäre sie geschlossen, müsste ich die ganze Nacht in der Kälte warten. Aber wo war die Grenze? Ich lief in die mir bezeichnete Richtung, doch vor mir, so weit ich sehen konnte, war alles dunkel. Kein Lichtschimmer, nichts. Der einzige Schlagbaum, den ich vor mir auftauchen sah, gehörte zu einer Schranke, die Straße führte in einer Linkskurve über Gleise, und ich hatte doch vor einer halben, oder einer viertel Stunde erst den Bahnhof verlassen. Wieso waren hier schon wieder Gleise, war ich im Kreis gegangen, in einer Schlaufe gefangen?
Hinter der Bahnschranke kam mir ein Mann entgegen, gebeugt, eine Schiebermütze auf dem Kopf. Aus welcher Versunkenheit ich ihn wohl geweckt hatte.
„Nach Polen? Ja, immer weiter die Straße entlang, vielleicht noch einen Kilometer, dann kommt die Grenze.“ Und als erwache er erst jetzt vollends, nachdem ich ihm gedankt und mich zum Weitergehen gewandt hatte, drehte er sich noch einmal um und sagte weich: „Grüß Polen.“
„Klar, mach ich. Gute Nacht!“
„Gute Nacht, alles Gute.“ Er winkte.
Und dann war sie da, die Grenzbaracke, mit matten Lichtern hinter weiß bemalten Scheiben. Knarrend öffnete sich die Tür, warmer Dunst hüllte mich ein, mehrmals musste ich mir die beschlagenen Brillengläser abwischen. Träge stürzten die tschechischen Zöllner sich auf mich, eine kleine Frau allen voran.
„Was wollen Sie?“
„Nach Polen.“
„Nach Polen? Haben Sie Auto?“
„Nein.“
„Wie sind Sie gekommen?“
„Zu Fuß.“
„Zu Fuß?“
„Ja. Zuerst mit dem Zug.“
Papiere. Pass, Visa, tschechisches Transitvisum, Zollerklärung ausfüllen. Wie viel Geld, welche Fotoapparate führen Sie ein? Den Koffer, die Tasche auf den Tisch. Bitte öffnen.
„Was wollen Sie in Polen?“
„Tourist.“
Sie wechselten Blicke.
„Das sind zwei Fotoapparate? Wie viele Filme haben Sie mit?“
Endlich ließen sie von mir ab, ein Auto hatte gehalten, mehrere Männer in Lederjacken kamen durch die knarrende Tür, die waren jetzt wichtiger.
Die polnischen Zöllner, die sich alles vom Hintergrund aus angesehen hatten, winkten mich durch: schnell, schnell! Kein Schnaps? Keine Zeit für Unsinn.
Der nächste Ort: eine Kleinstadt, ich war in Polen. Es hatte zu schneien begonnen, dicke weiße Flocken wirbelten im Lichtschein der Straßenlaternen. Ein Häuserkarree, der zentrale Platz, hinter einer Tür Licht, ein Hotel. Hinterm Tresen eine dunkelhaarige Frau, eine zweite fegte den Boden. Die Frau hinterm Tresen schüttelte den Kopf. Kein Zimmer frei. Ein Sessel, eine Ecke? Sie schüttelte den Kopf. Mit vor Kälte steifen Fingern suchte ich nach der Adresse, die Adam Zagajewski mir gegeben hatte, reichte sie über den Tresen. Die Frauen steckten die Köpfe zusammen, flüsterten. Dann ging die Reinemachfrau zur Tür, öffnete sie und zeigte mit dem Kopf nach draußen:
„Gehen Sie.“ Ein Rauswurf. Ich steckte die Adresse wieder ein und ging zur Tür hinaus, wollte sie schließen. Doch da stand die Reinemachefrau hinter mir:
„Gehen Sie, gehen Sie!“, und schritt mit verschränkten Armen an mir vorbei und voran durch den Schnee. Verwirrt folgte ich ihr. Ein anderes Hotel? Wir gingen lange. Nie würde ich den Weg zurück finden. Plötzlich blieb sie vor einem Tor stehen, nickte: hier ist es. Und war verschwunden, bevor ich begriff und ihr richtig danken konnte. Ich schritt durch den Torbogen, die Tür zum Nebengebäude war nicht abgeschlossen, ich fand den Namen auf dem Briefkasten, stieg die hölzerne Treppe hinauf, fand die richtige Wohnungstür, klingelte. Niemand zu Hause. Setzte mich auf die Treppe, was sonst hätte ich tun sollen?
Irgendwann ging das Treppenhauslicht an, kam jemand mit unsicheren Schritten herauf, noch einen Absatz, sah mich auf der Treppe vor der Tür sitzen.
„Wollen Sie zu mir?“
„Ja. Ich habe Ihre Adresse von Adam Zagajewski.“ Namen können Türen und Herzen öffnen.
„Kommen Sie herein.“
Er brauchte eine Weile, um die Tür zu öffnen, lachte.
„Entschuldigen Sie, ich komme von Freunden, wir haben gefeiert.“
Eine kleine Wohnung, ein Zimmer, eine winzige unaufgeräumte Küche, die Toilette. Überall Bücher, an den Wänden, auf Tischen. Irgendwo fand er noch eine halbvolle Flasche Wodka, schob Bücher und Papiere beiseite, und wir stießen mit Senfgläsern an.
„Ich weiß nicht, ob ich dich beneiden soll, ich bin schon lange nicht mehr gereist. Gdañsk. Ich liebe Gdañsk. Es gibt da ein Hotel, von dem aus man auf die Werft und den Rangierbahnhof sehen kann. Früh morgens, wenn die ersten zur Arbeit gingen, bin ich aufgestanden und hab aus dem Fenster gesehen. Was mir da alles durch den Kopf ging. Manches hab ich aufgeschrieben, das meiste ist wieder im wortlosen Nebel verschwunden.
Weißt du, wir sind hier an der Grenze. Das ist was Besonderes, und das wird leicht vergessen, sogar verachtet, weil man Grenzen schnell hinter sich lassen möchte und weiterkommen ins Zentrum.
Du wirst weit herumkommen, die Zentren sehen. Kraków, das kulturelle Zentrum, die Kirche ist dort besonders stark. Wrocław, das Zentrum der Industrie, der Bergarbeiter. Düster, voller verborgener Kraft. Warschau, das politische Zentrum. Vielleicht auch einmal das Zentrum der politischen Opposition. Noch ist sie wie übers ganze Land verstreut, was ich eher für einen Vorteil halte, denn es sorgt für Überraschungen. Und Gdañsk, das Zentrum der Gewerkschaftsbewegung. Sieh dir alles genau an. Aber vergissß nicht: Was da gedacht und gesagt wird, was dort geschieht, ist nicht das Ganze, auch wenn sie das dort gerne glauben. Die Zentren sind auch Zentren der Blendung, und nichts blendet so sehr, wie der Glaube an die eigene Bedeutung. Sieh dir immer wieder die Grenzen an, sieh von den Grenzen her, und du wirst eher verstehen, was das Ganze ist und wohin es sich bewegt. Wo immer du bist, suche den Rand, suche die Grenze.“
Ich wurde freundlich gedrängt, in seinem Bett zu schlafen, er wickelte sich in eine Decke und schlief im Sessel am Ofen. Am Morgen, nach einem kleinen Frühstrück mit polnischem Kaffe, in dem der Löffel im zwei Finger hohen Kaffeesatz stehen konnte, brachte er mich zum Busbahnhof. Um neun Uhr sollte der Bus nach Kraków fahren. Die Schalter waren leer, im Raum dahinter saß eine Verkäuferin und unterhielt sich lange mit einem Busfahrer, ohne uns zu beachten. Ich wurde ungeduldig, räusperte mich, klopfte an die Scheibe.
„Langsam, langsam. Du bist doch hier, um ‘Solidarność’ kennenzulernen“, sagte mein Begleiter lächelnd. „Hier ist sie, deine erste Begegnung mit ihr. Sie machen eine Besprechung, sieh hin.“
Auf dem Tresen stand ein kleiner Wimpel mit dem berühmten Zeichen. Andere Fahrgäste, die etwas abseits gewartet hatten, lächelten verständnisvoll.
„Sie machen rechtzeitig wieder auf. Und selbst, wenn die Besprechung länger dauerte, würde der Bus nicht ohne dich abfahren.“
Wir verabschiedeten uns herzlich. Ich schlenderte zwischen den Bussen einher, sah plötzlich ein helles Augenpaar auf mich gerichtet. Eine junge Frau mit roten Wangen sah mir aus einem abfahrenden Bus nach und winkte. Wohin fuhr dieser Bus? Ich würde es nie erfahren. Wohl zu einem Dorf in den Bergen, wo der Wind wohnt und jene Frau.
Da stand er dann, der Bus nach Kraków, mit laufendem und qualmendem Motor. Ich stemmte meinen Koffer hinein und setzte mich an einen Fensterplatz. Warum nur wollte ich jetzt nach Kraków fahren, wieso nicht irgendwoanders hin, auf eine ganz andere Reise, in die Berge, zu Wäldern und Wiesen, wo solche apfelbäckigen Mädchen wuchsen? Schon jaulte der Motor auf und der Bus rumpelte die Straßen entlang.
Straßenbäume brausten in regelmäßigen Abständen vorüber, hinter ihnen schimmerten Schneeflecken auf den Feldern, die Sonne flickerte schräg durchs Geäst und blendete mich, daß mir die Augen schwer wie von nassem Sand wurden. Schlafen mochte ich, wie andere hier im Bus, die wie Bauern aussahen und irgendwelche großen Bündel in ihrer Nähe zu liegen hatten. Zerfurchte Gesichter, Mützen über die Augen gerutscht. Mir ging zu viel durch den Sinn. Ich hatte eine Grenze hinter mir gelassen, nein zwei, und trotz der unvergessenen Worte meines nächtlichen Gastgebers erfaßte mich ein unbeschreibliches Hochgefühl. Was ist Freiheit denn wirklich? Ich wußte es nicht. Doch in solchen Momenten ahnte ich zumindest… Etwas ist von dir abgefallen, eine große Last, eine Beschwerde, unsinnige Beschwer- und Bitternisse, und du fühlst dich plötzlich leicht. Eben noch, kurz bevor der Bus losgefahren war, hatte ich mir eine ganz andere Art von Reise vorgestellt, und jetzt war es genau diese und keine andere, auf der ich sein wollte.
In Kraków angekommen, fuhr ich mit der Straßenbahn zum Bahnhof, stellte meinen schwarzen Koffer in ein Schließfach und sah mich um. Von hier aus würde ich morgen, übermorgen, oder in drei Tagen, das wußte ich noch nicht, weiterfahren. Ich liebe Bahnhöfe, sie sind Kathedralen des gewöhnlichen Lebens, das wir nur deshalb gewöhnlich nennen, weil es uns zuweilen schwer wird. Im Bahnhofsrestaurant standen zwei Männer an einem leeren Tisch und diskutierten miteinander, wobei sie ihre großen, schweren Hände gemessen bewegten. Hinter ihnen am Tresen standen Kunden Schlange, es gab Brötchen und Tee ohne Zucker, denn Zucker war seltsamerweise Mangelware geworden, wie manch anderes auch. Bier gab es aber, es war hell und dünn. Ein alter Mann in einen russischen Soldatenmantel aus grobem Tuch gehüllt, so lang, daß er ständig Gefahr lief, auf den Saum zu treten, mit weißem Zickenbärtchen und schlau funkelnden Äuglein hinter einer Nickelbrille, die er auf der Nasenspitze trug, ging auf den Bahnsteigen langsam zwischen den Wartenden herum, von denen mancher einen Seidel mit frischem Bier neben sich zu stehen hatte, um plötzlich mit meisterlicher Treffsicherheit in einen dieser Seidel zu spucken. Die Besitzer sahen überrascht den weißen Fleck in ihrem Glas und empört auf, schoben jedoch, wenn sie auf jene Gestalt und in diese Augen gesehen hatten, das Bierglas angewidert von sich, worauf es von diesem welt- aber nicht Bier verachtenden Trotzki in einem Zug geleert wurde.
Im Zentrum ging ich durch die Tuchhallen, breiten Arkaden durch Rundbögen verbunden, unter denen Souvenirs, Volkskunst, Handgewebtes und -geschnitztes verkauft wurde. Ein älterer Herr zeigte mit unmißverständlicher Geste: halt dir die Taschen zu. Aus einer der dunkleren Ecken erklang Musik, fremdartig-vertraut, die mich unwiderstehlich anzog. Auf dem Tresen eines geschlossenen Standes saß ein älterer Zigeuner mit eingesunkenen Schultern und einem Gesicht, das so traurig war, daß sein Anblick weh tat. Er spielte Romanzen auf seiner Geige, die unter dem Kinn auf seiner Brust lag, ein junger Gitarrist und ein zweiter Geiger, der auf einem dünnbeinigen Stuhl vor ihnen saß und sein Instrument wie ein winziges Cello auf den Oberschenkel stützte, den Hals an sein Ohr geschmiegt, begleiteten ihn. Sie brauchten nicht viel, nur einen einzigen Zuhörer, und sie kamen in Schwung. Plötzlich tauchte noch einer auf, lächelte verschämt wie ein Schuljunge, der zu spät gekommen war, packte seinen Kontrabaß beim Hals und fiel ein. Die Musik und ein Feuer, das wer weiß woher gekommen und nun in ihnen war, loderten hell auf und sie spielten und spielten. Unverständlich, daß von den Vorübergehenden sich niemand von dem Feuer anstecken ließ, nur eine ältere Dame bückte sich und warf mit flüchtigem Lächeln eine Münze in die Schachtel. Aufs Geratewohl lief ich durch die Straßen und konnte mich nicht sattsehen an den Gesichtern voller Falten und Runzeln, deren Zeichensprache ich zu verstehen glaubte. Reihen von Prüfungen, Niederlagen, Scheitern, und doch immer wieder ausspähen nach etwas, oder nach jemanden. Abwesenheit, das sagten nicht die Falten in den Gesichtern, sondern die Blicke, ängstlich bemüht, sich nie zu begegnen, wie Schiffe auf hoher See. Das Leben spielte sich andernorts ab; Straßen entlangzugehen, sie zu überqueren war irgendwie notwendig, aber im Wesentlichen unerfreulich.
Weil man täglich essen muß, mußte eingekauft werden, eine Arbeit, die den Alten oblag, denn sie nahm viele Stunden des Tages in Anspruch.
Aus verschiedenen Richtungen gekommen, trafen sich ein alter Mann mit Pelzmütze, deren Ohrenklappen herunter schlabberten und eine alte Frau in bäuerlicher Kleidung vor dem leeren Schaufenster eines Lebensmittelladens, standen kurz einträchtig nebeneinander, legten jeweils die Hand beschattend an die Scheibe, blickten hindurch, sahen – nichts… und gingen in verschiedene Richtungen auseinander, ohne einander Beachtung zu schenken. Auf einem großen Platz in der Innenstadt hatte sich eine Schlange gebildet, die sich mehrfach bog und in eine Nebenstraße mäanderte. Hinten in der Schlange wußte niemand, was es zu kaufen gab, man würde es schon noch rechtzeitig erfahren, wenn es dann überhaupt noch etwas gab. Eine Ladung Zucker war es, für die hier angestanden wurde, je zwei Tüten gingen wie am Fließband über den Tresen. Wer sie eingesteckt hatte, verließ eiligst den Laden, um, kurz geblendet von so viel Glück mit den Augen zwinkernd, sogleich nach der nächsten Schlange Ausschau zu halten. In einem gekachelten Fleischerladen standen vor allem Frauen, dicht an dicht. Vorsorglich, denn es gab nichts. Die Fleischerhaken an den Wänden waren verwaist, die Auslagen leer, die Verkäuferinnen beugten sich neben der Waage über eine Zeitung und lösten Kreuzworträtsel. Da waren auch andere Schaufenster, vor denen sich Menschen sammelten. An ihnen klebten Aufrufe, Mitteilungen, Informationen der Gewerkschaft und mit ihr sympathisierender Studentengruppen. Der Hunger nach Information war ebenso groß wie der leibliche. Die Zentrale der Gewerkschaft war ein kleines Haus, das an eine Arztpraxis, ein kleines Landambulatorium denken ließ. In einem der Räume drängten sich Menschen, standen auch hier Schlange, diesmal nach Unverkäuflichem, nach Informationen. Die Lebensmittelknappheit sei künstlich erzeugt, erfuhr ich hier, eine der Maßnahmen der Regierung, um die Menschen von der Unzweckmäßigkeit eigenen Denkens und Handelns zu überzeugen. Ganze Güterzüge voller Lebensmittel waren auf irgendwelchen Abstellgleisen nur deshalb entdeckt worden, weil sich um sie bestialischer Gestank verbreitet hatte, die Lebensmittel waren bereits verdorben. Und das in einem Agrarland, das auch in den schlimmsten Zeiten der "Kommune" nie Knappheit an Lebensmitteln gekannt hatte, weil die kleinen Bauern sehr bald in Ruhe gelassen worden waren. Jetzt hatten sie eine „Land-Solidarität“ gegründet, wollten eigene Handelsnetze aufbauen. Sie würden für alle Probleme Lösungen finden, wenn ihnen nur genug Zeit bliebe, sagte eine resolute Gewerkschaftsführerin. Aus einem der hinteren Räume drang geheimnisvolles Klappern und Surren. Ich klopfte, doch niemand antwortete, ich öffnete vorsichtig die Tür, ohne daß jemand reagierte, und stand in einer Druckerei. Junge, langhaarige, schwarzbärtige Männer machten sich an einer kleinen handbetriebenen Maschine zu schaffen, die offensichtlich eben einer Reparatur bedurfte, ein älterer Kollege hatte tropfende Schläuche und andere Maschinenteile in den schwarzen Händen. An einer anderen Maschine arbeitete jemand, der kurz aufsah und mir zunickte. Die Wände waren mit Plakaten, Flugblättern und Fotos übersät; auf einem schmalen, hohen Plakat stand Lenin mit seiner berühmten Mütze, das Kinn vorgereckt und Händen in den Taschen. Die Drucker hatten ihm ein Solidarnosc- Abzeichen ans Revers gesteckt, eine polnische Untergrund-Zeitung namens „Robotnik“ unter den Arm geschoben und eine Spruchblase vor den Mund gemalt mit unverständlichen, halb chinesisch, halb technisch anmutenden Zeichen.
Nach Nowa Huta, einer jener riesigen Arbeitervorstädte voller neunststökkiger Betonkästen fuhr ich mit einem der qualmenden und dröhnenden Stadtautobusse. Ich besuchte dort die Schriftstellerin H., die zweite Adresse auf meiner Liste. Wir saßen in ihrer Küche mit glatten, weißen Anbaumöbeln auf schlichten Hockern an einem mit weißem Plastik beklebten Tisch. Ihr Mann hatte sich kurz nach der Begrüßung zurückgezogen. Sie war Ende dreißig, eine schöne Frau, nur wurde ihre rechte Gesichtshälfte von einer langen, tiefen Narbe entstellt. Unvermittelt beugte sie sich vor, sah mir fest in die Augen und fragte fast herausfordernd:
„Und wer bist du?“ Das war so ungewöhnlich wie diese Frau.
„Wer?“, fragte ich überrascht und ein wenig töricht zurück, als hätte ich nicht verstanden. Keine leicht zu beantwortende Frage, wie ich fand, hatte ich doch lieber mit anderen als mit mir zu tun. Da die anderen aber zwangsläufig mit mir zu tun hatten, hatten sie auch das Recht, mich zu fragen. Statt gewundene Erklärungen abzugeben, erzählte ich kurz meine Geschichte, und sie hörte sehr aufmerksam zu. Es wurde Abend, von Zeit zu Zeit wanderte mein Blick zum Fenster, um sogleich, an der gegenüberliegenden gleichförmigen Fassade mit fast quadratischen Fensterlöchern abgeprallt, zurückzukehren. Sie wirkte überhaupt nicht unglücklich, aber ich konnte nicht anders, als sie zu fragen, wie man hier denn leben könne. Sie nickte, schüttelte den Kopf, lachte, stand auf und öffnete das Fenster.
„Sieh mal, dort drüben, wo gerade das Licht anging, da kocht meine Freundin Krystyna jetzt das Abendessen für ihre Familie, dort wohnt Zbyzek, ein Junge, der uns sehr hilft, er verteilt Flugblätter und Broschüren, dort wohnt Zofia, eine gute Freundin, sie ist hier die Krankenschwester.“ Sie zeigte und zeigte.
„Wären das alles hier kleine Häuser, hätte ich weit zu gehen, wenn ich sie besuchen wollte. Den ganzen Tag wär ich unterwegs, und die meisten würde ich überhaupt nicht kennen, weil wir uns nie begegnet wären.
Ich glaube ebenso wenig wie du an die salbungsvollen Reden der Priester und die Dogmen der Kirche, auch wenn sie interessanter sind, als die Dogmen der Partei. Aber geh mal, wenn du morgen Zeit hast, in die Kirche von Nova Huta. Sie ist nicht schön, deshalb paßt sie hierher. Und sie ist der Stolz der Menschen hier, weil sie allein mit ihrem Geld gebaut wurde. Geh einmal zur Messe, wenn du morgen, am Sonntag Zeit hast, du wirst staunen. Warst du schon in der Ausstellung über die Streiks und Aufstände der sechziger und siebziger Jahre, die zur Gründung der Gewerkschaft führten? Es ist die erste Ausstellung dieser Art in Polen mit großformatigen Fotographien, die zuvor nicht viele gesehen haben, eine Sensation.“ Und leise, wobei sie das Gesicht zum Fenster wandte, sagte sie: „Niemand kann sagen, wie lange die Gewerkschaft noch existiert. Je länger, desto besser, weil wir wieder auf eigenen Beinen zu gehen lernen. Selbstverständ-lich, sie wollen sie zerschlagen, doch vielleicht zerstören wir sie auch selber in Richtungskämpfen und persönlichen Ambitionen, darin haben wir großes Talent. Doch solche Ausstellungen, all diese Arbeit, die jetzt getan wird, um die Erinnerung an unsere Kämpfe, unsere Leiden, unsere Forderungen in der Zeit, an andere Menschen weiterzugeben, das wird bleiben.“ Bevor wir uns verabschiedeten, fragte ich, ob ich sie fotografieren könne und machte auch ein Foto von der rechten Seite ihres Gesichts, die sie mir etwas überrascht, doch bereitwillig zuwandte. Die Narbe stamme von einem Unfall vor vielen Jahren, nicht so wichtig, antwortete sie auf meine Frage. An der Tür schüttelten wir uns lange die Hände, dann spuckte sie mir dreimal über die Schulter. „Paß auf dich auf!“ und steckte mir gleichzeitig einen Zettel zu. „Wenn du in Gdañsk bist, geh mal bei Jerzy Bulak vorbei und grüß ihn von mir, das ist die Adresse, wo du ihn treffen kannst. Und frag auch nach Anna Walentinowicz; was mit ihr passiert ist, versteht hier niemand.“
Zurück in Kraków, ging ich in ein kleines Hotel und wollte vor dem Schlafengehen etwas essen. Das Restaurant war bis auf den letzten Platz leer. Essen gab es noch, doch, na ja – nur nicht, was auf der Karte stand, entschuldigte sich der Kellner, brachte schließlich einen Teller mit Kartoffeln, ein wenig Gemüse und etwas Undefinierbarem, das wohl Fleisch sein sollte. Geduldig hörte ich mir alle seine Entschuldigungen an, nahm sie lächelnd und mit beschwichtigenden Gesten entgegen. Zu keinem Zeitpunkt wüßte ich zu sagen, wie es schmeckte, doch erinnernswürdig war dieses Essen.
Am nächsten Morgen bezahlte ich die Rechnung in lächerlicher Höhe und fuhr wieder nach Nowa Huta. Passanten mußte ich nicht fragen, um die Kirche zu finden, ich brauchte ihnen nur zu folgen, dann sah ich sie schon zwischen den kahlen Wänden der Hochhäuser. Es war ein auffälliger Betonbau mit schräg nach oben ragendem Turm, innen allerdings weit und hell. Ein riesiger dürrer Jesus hing an Eisenrohren schräg hinter der Kanzel von der Wand, dessen Kreuzigung wie ein Sturz wirkte, den er mit den schräg abgewinkelten und leicht nach hinten gestellten Armen nicht abfangen würde. Ein Sturz und ein Aufbäumen. Dies war die Kirche der Stahlarbeiter. „Nowa Huta“: neue Hütte. Ich sah den Priester, kenntlich durch eine bestickte Schärpe, die er um den Hals trug, umringt von Menschen, die mit ihm sprachen. Es war eine Atmosphäre wie nach einem Konzert, wenn man noch nicht gleich nach Hause gehen will, sondern seine Eindrücke mit anderen teilen. Ein Gottesdienst war eben zu Ende gegangen. Doch bald schon füllte sich die Kirche wieder, füllte sich bis auf den letzten Platz. Ich eilte auf die Galerie, um besser sehen zu können und sah mich sogleich eingekeilt zwischen rauhen Wintermänteln. Ein Singen hob an, sprang mich an wie ein plötzlicher Wind. Sicher hörte ich die Stimmen der Menschen in meiner Umgebung deutlich, es war aber zugleich ein Brausen von allen Seiten. Eine triste, ergreifende Melodie, die sich erhob, anschwoll, sich in langanhaltenden Tönen weiterschwang und ebenso abrupt verklang, wie sie begonnen hatte. Plötzlich konnte ich unten den Priester vor dem Meßtisch sehen, der mit der Predigt begonnen hatte, denn alle um mich herum waren niedergekniet, bekreuzigten sich, erhoben sich wieder, um der donnernden Stimme des Priesters zu lauschen, die sie zuweilen mit beifälligem Brummen oder Stöhnen kommentierten.
Nie zuvor hatte ich eine solch große Menschenmenge in einer Kirche gesehen. In diesem weiten, hellen Kirchenschiff teilten die Menschen etwas miteinander, wurden von gemeinsamer Sorge und Hoffnung beseelt.
Das war so völlig anders, eine andere Kirche, andere Gläubige, ein anderer Gottesdienst, als ich sie vor acht Jahren bei meinem ersten Besuch in der Kathedrale gegenüber den Tuchhallen erlebt hatte. Die strahlte eine düstere Farbigkeit aus, weit vorn glänzte golden der Altar, die Seitenschiffe waren von Säule zu Säule durch Gitter abgeteilt, in diesen Nischen standen jeweils andere Heiligenfiguren, vor denen Kerzen brannten und Menschen knieten, die gesenkten Hauptes beteten. Gemurmel durchwebte die Kirche; die Vielfalt der Heiligen und ihrer Verehrung, das sich steil erhebende Kirchenschiff, das Patina und der Geruch von Jahrhunderten beeindruckten, aber zogen mich nicht an.
In einer von Krakóws ruhigen Seitenstraßen stand ein Backsteingebäude mit Türmchen, geschmiedetem Eisenzaun und verziertem Tor, hing voller Transparente, überall waren junge Leute. Es
gehörte zur Universität, wie ich erfuhr, und die Studenten streikten. Sie kontrollierten den Einlaß, sie wollten Provokationen verhindern, doch nach einigen Fragen, die ich
offensichtlich zufriedenstellend beantwortete, durfte ich hineingehen. Eine Wendeltreppe vier Stockwerke durch großes Gedränge hinauf, und auch in den Gängen überall Studenten.
Manche diskutierten eifrig, andere saßen still herum, eine junge Frau, fast noch ein Mädchen mit zwei kurzen Zöpfen, einer weiß-roten Armbinde und dem Abzeichen der Studentenorganisation
NZS auf dem Rollkragen ihres Wollpullovers, las mit Schreibmaschine abgetippte Gedichte vom Umfang eines kleinen Büchleins, und ich verliebte mich in ihr konzentriertes Gesicht, das
immer, wenn sie ein Gedicht zu Ende gelesen hatte, nach Pausen, die mir lang wurden, mit strahlenden Augen ein Lächeln in die Runde schickte, ein Lächeln wie ein leuchtender Morgen am
Meer. Ich fragte sie nach dem Namen des Autors, den sie mir bereitwillig in mein Notizbuch schrieb. Selbstverständlich kannte ich ihn nicht, und das Notizbuch sank seltsamerweise zusammen mit
meinem Rucksack in Bangladesh auf den Grund des Jamuna, eines der größten Ströme Asiens.
Die Fotoausstellung über die Aufstände der Vor- Solidarnosc- Zeit hatten hier alle gesehen, und sie bezeichneten mir den Weg dorthin. Sie war in der Tat sehenswert. Die großen Räume
schienen eben groß genug für die riesigen, wohl zwei Meter hohen Fotos, die gut ausgeleuchtet eins am andern die Säle füllten. Die Bildunterschriften waren am Fuß der Fotos
angebracht, so tief und verhältnismäßig klein, daß der Versuch, sie zu lesen zu einer unwillkürlichen Verneigung wurde. Ein Foto zeigte, offensichtlich aus einem Fenster im ersten
Stockwerk durch die kahlen Zweige eines Baumes aufgenommen, Arbeiter, die mit weit ausholenden Schritten eine Tür auf ihren Schultern die Straße entlang trugen – auf der die
blutüberströmte Leiche eines ihrer Kameraden lag. Die ganz eigentümliche Spannung, die von diesem Foto ausging, lag in dem schroffen Gegensatz zwischen dem dramatischen Geschehen auf
der Straße und der privaten, halb verborgenen Perspektive, aus der es aufgenommen worden war. Nicht nur die Zweige wirkten als eine Art Gardine, ich glaubte sie auch neben der
Bildbegrenzung wehen zu sehen, zweifellos waren da in der Nähe auch eine Vitrine, ein Tisch, Stühle. Und doch war diese Gardine weggezogen worden, unwiderruflich.
Weiter blieb eigentlich nichts, als selbst auf die Straße zu gehen.
Aber heute war kein Aufstand. Von innen schwach erleuchtete vorüberwankende Straßenbahnwagen, vollgestopft mit Menschen, die sich an Stangen und Griffen festklammerten. Autobusse, hinter deren beschlagenen Scheiben schemenhaft Gestalten vorbeischwebten. Ein Gesicht, das flehentlich ins dunkle Draußen starrte. In den Gassen, die ich vorgeneigte Körper der Vorübergehenden, die dem kalten Wind und dem einsetzenden Schneegestöber entgegen strebten. Dampf quoll aus der eben geöffneten Tür einer Bäckerei; jemand, der hinaustrat, brachte den Geruch von frischem Brot mit. Ein vielleicht vierjähriges Mädchen zog die zögernde Großmutter an der Hand hinter sich her in einen Milchladen. Die schlichte Geste einer alten Frau, die in ihren Fausthandschuh blies, um die erfrorenen Finger zu wärmen.
Ich fuhr als eine der wankenden Gestalten zum Bahnhof, holte meinen schwarzen Koffer aus dem Schließfach, löste eine Fahrkarte und fuhr mit dem Nachtzug über Katowice Richtung Wrocław. Stunden Aufenthalt in Katowice. Auf Holzbänken, über Taschen und Bündel kauernd Schlafende. Setzte ich mich für eine Weile ruhig auf einen Platz, betrachtete meine Umgebung, um irgendwann ein Stück weiterzuziehen. Stellte fest, daß ich so anders und Anderes sah. Auf einer Bank saß eine Frau, einen Arm über zwei Taschen gelegt, den anderen um ein kleines Mädchen, dessen Augen munter umherliefen, über Steine, Wände, Bänke, Menschen, als frage sie: und wohin fahren wir heute? Nur manchmal, ermüdet, wenn ein zu schwerer Blick auf ihr lastete, huschten sie hinter die Lider. Nicht weit von ihr entfernt saßen ein Mädchen und ein Soldat. Ihre Wangen glühten, als fieberte sie. Lange saßen beide dort still nebeneinander, doch sprach sie unvermittelt leise und eindringlich auf ihn ein. Er saß sehr gerade in seiner braungrünen Uniform aus grobem Stoff, die ihm unbequem wie Packpapier sein mußte, und mit der seltsam eckigen Mütze auf dem Kopf nickte er hin und wieder, sah auch kurz zu ihr herüber, blieb aber unnahbar, sich und ihr, allem fremd, eine bunte Tasche neben seinen Füßen, der er manchmal wie absichtslos leichte Tritte versetzte. Auffallend selten, wie in Kraków schon, waren Polizisten zu sehen, und wenn, dann schlenderten sie lässig die Gänge entlang, ohne sich wichtig zu machen. Niemand belästigte die Schlafenden, unter denen offensichtlich auch einige Obdachlose waren, doch bemerkte ich, daß die Reisenden gegenseitig aufeinander achteten. Lange mußte ich nicht mehr warten, der Zug hatte einige leere Abteile, in einem von ihnen konnte ich mich ausstrecken, es war wie üblich überheizt und nicht lange nach der Abfahrt war ich in unruhigen Schlaf gefallen. Erst weckte mich der Schaffner, später neu hinzugestiegene Fahrgäste, die lärmend Licht machten, hereindrängten, Alkoholgeruch verbreiteten, mich fröhlich einquetschten, eine Schnapsflasche kreisen ließen und zum Mittrinken aufforderten. Wieder kam der Schaffner, oder war es ein anderer, denn diesmal hatte er etwas an meiner Fahrkarte auszusetzen und redete auf mich ein. Ich verstand überhaupt nichts, schließlich hatte ich sie doch für diesen Zug gekauft. Fehlte ein Zuschlag oder etwas anderes, ich sah mich fragend um, und nun begannen die anderen Mitreisenden auf den Schaffner einzureden, bis der schließlich abwinkte und uns allein ließ. Der Zug wurde bei jedem Halt voller, und es war noch nicht fünf Uhr. Die Reisenden standen in den Gängen, saßen auf Taschen, selbst Kinder waren mit ihren Müttern unterwegs. Als der Zug in Wrocław hielt, eilten sie über den Bahnsteig, den Ausgängen und ihrer Arbeit zu. Der Bahnhof war größer als der in Kraków, ein Schiff an Land, in dem sich alles bewegte und das deshalb selbst in Bewegung war. Durch den verglasten Giebel strömte Licht, die Seitenwände waren etwa fünf Meter hoch mit schwarzen, glänzenden Kacheln verkleidet, in die in regelmäßigen Abständen Spiegel eingelassen waren, deren unruhige Oberflächen eigenartige surrealistische Bilder erzeugten. Im Mittelgang standen Reihen von lehnenlosen Bänken, rechts waren die Fenster der Fahrkartenschalter, links führten kurze Treppen zu einer Empore, über die Cafés, ein Friseur, der Wartesaal und ein Restaurant zu erreichen waren. Über die Balustrade gelehnt standen hier Männer und sahen dem Treiben, dem Kommen und Gehen stunden- wenn nicht tagelang zu, und nachdem ich meinen Koffer in der Gepäckaufbewahrung deponiert hatte und einen dünnen Kaffee getrunken, gefiel es mir, mich für eine Weile zwischen sie zu stellen, von ihnen mit neugierigen Blicken bedacht, die ich wie altes Inventar mit möglichst lässigem Gruß erwiderte. Dann machte ich meine „Sightseeing-Tour“, wie ich das nannte, indem ich die erstbeste Straßenbahn nahm, mich aufs Geratewohl durch die Stadt fahren ließ, irgendwo um-, irgendwo anders ausstieg und dabei versuchte, mir Straßenverläufe und Plätze zu merken. Da waren die Reihen der Fassaden, alt und neu, und mich verwunderte zunächst die architektonische Nähe zu alten tschechischen Städten, das dunkle Gelb der K.u.k.- Monarchie und Backstein- Neogotik. Eine jede Stadt macht einsam, wenn man fremd in ihr ist, das kann anregend sein, doch leicht auch niederschlagend. Wrocław hatte etwas Abweisendes, ich sah wenige Menschen auf den Straßen. Waren sie alle in den düsteren Fabriken? Ich war froh, einen Häuserblock zu entdecken, um den herum die Kinder draußen spielten. Mietskasernen waren das, blatternarbig, mit Resten von Putz an den Wänden, und diese Reste voller Löcher wie von Einschüssen, ihr einziger Schmuck. Das große Geviert des Hofes kahl, festgestampfte Erde. Ein winziger Baum in der Mitte, an einen Pfahl gebunden, zeigte seine letzten vertrockneten Blätter dem Himmel, an einer schiefen Teppichklopfstange schaukelten zwei Mädchen. Zu diesem Hof war ich andren Kindern gefolgt, die Versteck spielten, sonst hätte ich ihn kaum gefunden, der Weg führte durch eine schmale Lücke wie durch einen Felsspalt zwischen zwei hohen, kahlen Wänden hindurch; Stirnseiten, die rechtwinklig zueinander standen, an deren einer dunkle Spuren von abgerissenen Schuppen oder kleinen Häuschen zeugten.
Eine Adresse hatte ich hier nicht, lediglich einen Namen, Andrzej W. Er arbeite an der Universität in der linguistischen Fakultät, dort sollte ich nach ihm fragen. Ich fand das richtige Gebäude, einen Backsteinbau an einem sonst leeren Platz, und es war ziemlich verlassen. Türen, Schilder, Flure, endlich hörte ich Schritte, denen ich entgegenging und hatte Glück. Ein Student kannte den Namen und nannte mir ein Café in der Innenstadt, wo er um diese Zeit wohl anzutreffen sei. Das Café war nicht groß, an einem Tisch am Fenster sah ich einen Mann mit vorspringendem Kinn, etwas älter als ich, mit mehreren jungen Leuten, zu denen er schnell, beinahe überstürzt sprach. Ich wollte sie nicht stören und setzte mich an einen Tisch weiter hinten, als er aber nach einer halben Stunde immer noch nicht mit seiner Rede am Ende war, unterbrach ich ihn, indem ich fragte, ob er Andrzej heiße und mich vorstellte. Worauf er sich eilig von den anderen verabschiedete, sich mit meinem Erscheinen entschuldigend, er habe wichtigen Besuch, um mit mir in der Straßenbahn zu einer kleinen, seltsam vollgestellten Wohnung zu fahren. Stolz zeigte er mir die deutschen Ausgaben von Trotzkis Schriften und eine Trotzki-Biographie. Er sprach ausgezeichnet deutsch, und nun war ich seinem Wortschwall ausgesetzt, doch war seine Rede zuweilen dunkel, voller Anspielungen und Geheimniskrämerei. Ein Zentralkomitee erwähnte er, eine Organisation, die er leite. Ein Zentralkomitee im Untergrund, zu jener Zeit war das zumindest pittoresk.
„Noch sind wir nicht stark, aber wir sind eine Stimme, auf die man hört, denn wir haben Entwicklungen rechtzeitig vorausgesehen, und wir werden unsere kritische Kraft auch weiterhin unter Beweis stellen. Die Solidarnosc- Führung glaubt den Sieg schon in der Tasche zu haben, und die Kirchenfürsten unterstützen sie in diesem Irrtum, denn ihr Sieg ist es in jedem Fall. Für die Kirche ist das nicht nur ein wohlfeiler Wechsel auf die Zukunft, nie war ihre Macht größer als heute, ihre Autorität ungebrochener. Die Kirchen sind voller Leute, die unter ihren Schutz fliehen, sich unter den Priesterröcken verstecken wie erschrockene Kinder unter den Röcken der Mutter. Die Gewerkschaft hätte ihre Siege ohne die Zustimmung, ohne den Einfluß der Kirche und ihres Vaters, des Papstes, nicht errungen. Das macht sie abhängig, und ein großer Teil der Flügelkämpfe, die im Verborgenen stattfinden, sind diesem Einfluß geschuldet. Kämpferische und radikale Führer werden an den Rand und hinausgedrängt, während die Macht der Kirche nur größer wird, selbst, wenn die russischen, oder auch polnischen Panzer kommen und der Name ‘Solidarnosc’ nur noch eine liebevoll gepflegte Erinnerung, ein Mythos sein wird. Aber das sind nur Zwischenspiele. Das Einzige, was jetzt wirklich erreichbar ist, das ist der Kapitalismus. Und wenn dann die Menschen sehen, was er wirklich ist, wenn sie endlich von ihm die Nase voll haben, und nicht mehr nur von diesem ineffizienten Staatsmonopolismus, erst dann kommt die wahre Revolution. Auf sie müssen wir vorbereitet sein.“
Wir saßen in einem schmalen, dunklen Zimmer auf Matratzen und tranken Tee mit Rum zu seinen Reden. Irgendwann klingelte es. Heute fände bei ihm eine Versammlung statt, erklärte er.
„Tagt das Zentralkomitee?“ fragte ich, denn so etwas hätte ich gern einmal miterlebt.
„Nein, lediglich die hiesige Führung.“ antwortete er mit einem prüfenden Seitenblick. Er würde mir die Genossen vorstellen, doch dann müßten sie für eine Weile allein miteinander sprechen, später könnten wir uns im größeren Kreis unterhalten. Der größere Kreis machte mit ihm drei Genossen, die in der Küche tagten, aus der ich nur Andrzejs durchdringende Stimme hörte, dafür auffallend oft. Seine Stimme und sein Gebaren machten ihn schon als Politiker tauglich, eigentlich auch der verkniffene und zuweilen leicht zynische Zug um die Mundwinkel. Nur als Anführer einer Gruppe junger Studenten (und Arbeiter, wie er sehr betonte), schien er mir wenig geeignet. Die Unterredungwar kurz, von seinen zwei Genossen verabschiedete sich die junge Frau sogleich, während ein schlaksiger junger Mann eine Weile auf der Matratze mir gegenübersaß, mich musternd, um außer Floskeln nichts zum Gespräch beizusteuern. Wenn ich ihn etwas fragte, schien er erstmal aus einer seltsamen Erstarrung aufwachen zu müssen. Als auch er gegangen war, konnte ich mich von Andrzej weiter in die Geheimnisse und seine Deutungen polnischer Politik einführen lassen. Ich wollte mit dem Frühzug nach Warschau weiterfahren, und er gab mir die Adresse einer Germanistikstudentin, die seiner Gruppe angehörte und ein Päckchen, das ich ihr überbringen sollte. Gegen Mitternacht war wohl nicht sein Vorrat an Gesprächsstoff, dafür an Rum erschöpft. Ich war es auch und legte mich auf den Matratzen schlafen.
Noch verschlafen und leicht verkatert löste ich im Bahnhof meinen Koffer aus, was seltsame Umstände machte. Zuerst mußte ich an einem anderen Schalter bezahlen, wofür ich einen Stempel auf meinen Gepäckschein bekam, um mich dann am ersten Schalter wieder in die Reihe stellen, und dann hatten die beiden Angestellten in ihren blauen Kitteln Mühe, ihn zu finden. Schliesslich entdeckte ich ihn unter einem Stapel anderer Koffer.
Der Zug fuhr sehr schnell, stundenlang stand ich im schwankenden Speisewagen, in dem es keine Sitzplätze gab, an einem der ovalen Tische und konnte in beide Richtungen in die vorbeifliegende Landschaft sehen. Da war Weite, waren schneebedeckte Felder, durch den Himmel zogen Vögel, und es gefiel mir, dicht über die Erde zu fliegen und den Blick in die Weite zu schicken. Daraus entstand ein Spiel des Blicks gegen die Zeit: festhalten, festhalten – ein Spiel gegen die Geschwindigkeit. Wieviel konnte ich aus der Nähe festhalten. Da, das Stellwerkerhäuschen, das schon nicht mehr da ist, ich habe es genau gesehen, und das Gesicht der Frau, das aus dem kleinen Fenster sah, rundlich, mit schmalem Mund und dunklen Augenbrauen, ich werde es nicht vergessen.
Und es war wie eine Verabredung mit der Zukunft.
Hier werde ich einmal entlanggehen, oder hier, durch diesen Wald. Ich wußte, daß die Wahrnehmung beim Gehen völlig anders sein würde, und konnte mich doch dort entlanglaufen sehen. „Irgendwann, irgendwann, irgendwann…“ ratterten höhnisch die Räder. „Bald, nicht mehr lang“, klang es in mir. Aber der Schnee, der dünne, unberührte Schnee, der über allem lag wie verschlissenes Tuch, hatte etwas Zehrendes, war wie zu tief in das blasse Grau des Himmels getaucht.
Warschau, ein eigenartiger Bahnhof, Beton und Glas. Die ganze Stirnseite verglast, doch wie war das möglich, daß die Menschen hier zu Ameisen wurden, so daß ich das Gefühl hatte, hier niemals jemandem begegnen zu können, obwohl doch in der Halle nicht wenige Menschen waren? Eine Halle ohne Linien, ohne Perspektiven, nichts, was den Blick an- und weiterzog, und schon war aus der Halle Hölle geworden. Wie zur Bestätigung meines Blicks zeigte sich am anderen Ende ein Widerpart: Ein junger Soldat stand hoch aufgerichtet vor der verglasten Eingangsfront, eine Tasche vor seinen leicht gespreizten Beinen, und ließ, die ihm Entgegenkommenden herausfordernd musternd, seine Blicke durch die Halle schweifen. In Warschau hatte ich jetzt zwei Adressen, eine, die ich von Adam Zagajewski bekommen hatte und eine von Andrzej, und ich entschied mich, zuerst die zweite aufzusuchen. Die Tür in dem sehr schlichten Betonbau, von denen es hier viele gab, und die an nichts erinnerten, als an die Zerstörungen des Krieges, wurde von einer kleinen rundlichen jungen Frau geöffnet, der ich Grüße ausrichtete und das Päckchen überreichte, das ich etwas umständlich dem schwarzen Koffer entnahm, den ich bei ihr unterstellen konnte, ehe sie mit mir hinausging. Sie hieß Beata, und während wir in der Straßenbahn durch Warschau fuhren, erzählte sie mir in ihrem weichen und lustigen Deutsch eine lange Geschichte. Im letzten Sommer war sie in Deutschland gewesen, in Heidelberg, wo sie bei dem sehr freundlichen Professor für Politologie wohnte, der zuvor in Warschau auf einen Kongreß gewesen war, mit ihr als Dolmetscherin, und der sie nun eingeladen hatte. Etwas anderes wäre für sie auch nicht möglich gewesen. Sie beschrieb die gepflegte Wohnung, die Ehefrau, die Kinder, die Mahlzeiten und die Abende vor dem Fernsehapparat, die immer mit der Tagesschau begannen. Doch an einem Abend im August war der Fernsehabend empfindlich gestört worden von den eingetroffenen und verkündeten Nachrichten. Der Professor stopfte sich seine Pfeife und lief um die niedrige Glasplatte seines Wohnzimmertisches herum, viele Male, Qualmwolken ausstoßend und sich fassungslos an den Kopf greifend: „Das ist doch nicht möglich, das kann doch gar nicht sein, in Polen, in Osteuropa eine unabhängige Gewerkschaft!
Eine freie Gewerkschaft im Osten, das glaube ich nicht, das geht doch gar nicht!“
„Dabei hatte ich ihm schon Tage vorher gesagt, daß es zwischen der Regierung und den Streikenden kein Abkommen ohne unabhängige Gewerkschaft geben würde, das sei für sie das Wichtigste. Aber er hat immer nur mit ironischem Lächeln abgewunken und gemeint, ich solle aufhören zu träumen.“ Der arme Professor, ich mußte herzlich lachen und bat sie, mir zu zeigen, wie sein Gesicht ausgesehen hatte, als plötzlich eine barsche Stimme aus der Mitte des Wagens tönte:
„Halt endlich dein Maul!“
Erstaunt sah ich mich um, und da standen sie, drei Männer Mitte vierzig in schwarzen Lederjacken, drahtig, mit kurzgeschnittenen Haaren, die Stirn voll dünner, waagerechter Linien, Falten wie mit dem Lineal gezogen, die mit eisigen Augen zu uns rüberstarrten. Oh, wie ich sie kannte!
„Ach, die Herren von der Sicherheit. Was wollt ihr denn hier, ihr seid doch hier ganz fehl am Platz. Wir sind hier nicht in Bautzen oder Brandenburg. Wollt wohl Ordnung machen, was? Eure Ordnung, die da ist, wo nichts ist. Aber hier geht das nicht, und das ist euch unheimlich, nicht? Hier habt ihr gar nichts zu melden und zu befehlen.“
Eine Weile war Ruhe, dann beugte sich einer in meine Richtung und sagte drohend:
„Wir können uns auch woanders unterhalten.“
„Am besten, ihr verschwindet, sonst sagen wir mal eben den Leuten hier, wer ihr seid.“
Die Leute waren still, sehr still und sahen aus dem Fenster. Falls sie überhaupt verstanden hatten, was da vorging, ging es sie einfach nichts an. Doch an der nächsten Haltestelle waren wir die drei Lederjacken los – weil ich mit der Studentin ausgestiegen war.
„Warum hast du nicht irgendwas auf polnisch gesagt, möglichst laut, um die Idioten zu erschrecken?“ Beata sah mich mit runden Augen an.
„Wer waren die? Was war denn plötzlich los?“
„Das waren Offiziere der ostdeutschen Staatssicherheit.“
„Waas? Und was wollen die hier??“
Da mußte ich doch wieder lachen und nahm sie in die Arme.
„Was werden die schon wollen? Ihr seid mir ein lustiges Völkchen. Geht nur immer euren Weg und kennt eure Feinde nicht. Das ist auch Tapferkeit. Ja, und darin habt ihr wohl recht, wer immer nur auf seine Feinde starrt, wagt am Ende überhaupt keinen Schritt mehr zu machen. Sie sind sicher nicht allein hier, dazu sind sie wirklich zu feige. Sie sind ja nicht hergekommen, um etwas zu lernen. Wer weiß, wie viele sie sind.“
Wir waren losgefahren, weil sie mir zeigen wollte, wie die Studenten in Warschau streikten, also fuhren wir mit der nächsten Bahn zur Universität. Ein flacher, langer Bau, der voller Studenten war, die auf dem Boden saßen, weiter hinten stand ein Pult mit einem Strauß Blumen. Eine seltsame Spannung herrschte. Beata fragte, um Erkundigungen einzuholen und flüsterte kurz darauf aufgeregt:
„Es ist eine Lesung.“
„Eine Vorlesung?“
„Nein. Miłosz. Weißt du, das heißt Freiheit. Unser größter Dichter kommt.“
„Czesław Miłosz?“
„Ja, er ist zu uns gekommen, er ist hier, er wird für uns lesen.“ Wie sie sich freute, wie stolz sie war. Seit vielen Jahren lebte er im Exil, und jetzt war er wieder bei ihnen. Wir mußten noch eine ganze Weile warten, ehe ein älterer Mann in Begleitung einiger kräftiger junger Männer erschien, sich ans Pult stellte, die Lampe anknipste und sich räusperte. Er neigte seine langen buschig geschwungenen weißen Augenbrauen seinen Zuhörern entgegen und begann ohne weitere Umstände seine Gedichte vorzutragen. Ich verstand von allem lediglich die Musik seiner Sprache.
Nach der Lesung begrüßte Beata ihre Bekannten, die sie aus der Zeit kannte, als sie die geheime Studenten- Bibliothek der führte und sprach mit ihnen. Ich erfuhr, daß der Streik schon zwei Wochen dauerte, an anderen Universitäten noch länger, und daß es ihnen vor allem um neue Statuten, die Anerkennung des unabhängigen Studentenverbandes, um größere Rechte ging. Aus dem Krankenhaus nebenan hatten sie Geld für den Streik bekommen, von der amerikanischen Botschaft Käse. Das Krankenhaus litt unter Personalmangel, deshalb gingen jeden Tag fünf oder sechs Studenten hinüber, um beim Saubermachen oder in der Küche zu helfen.
Auf der Rückfahrt zu ihrem kleinen Zimmer, ihrer Studentenbude, erzählte sie von ihrer Mutter, die in der Universitätsbibliothek arbeitete.
„Im November, als es auf Spitz und Knopf stand, daß sie einmarschieren, die Russen ständig drohten und in Grenznähe große Manöver abhielten, saßen wir vor dem Fernseher und sahen immer wieder Nachrichten. Das Programm war zu Ende, sie schaltete den Apparat aus, setzte sich hin und dachte lange nach. Dann sagte sie:
‘Ich habe vergessen, wie man diese Flaschen füllt. Ich habe es vergessen, aber es wird mir schon noch einfallen.’
Das sagte sie so ruhig, ganz ohne Leid.“
Beata beschrieb mir den Weg zur neunen Adresse. Ich nahm den Koffer entgegen und fuhr in eine der Hauptstraßen in der Innenstadt. Straßenbahnen, Busse und Autos ratterten, quietschten, donnerten entlang. Das Haus sah, für hiesige Verhältnisse, vornehm aus, das steinerne Treppenhaus war einfach und angenehm, die Wohnung lag im ersten Stock. Eine Frau in den Fünfzigern, die Kraft ausstrahlte, mit kurzen, schon etwas grauen Haaren, die sie nicht verbarg und mit rundem Gesicht öffnete mir. Alles an ihr wirkte breit, doch nicht behäbig. Sie trug ein gerade herabfallendes Kleid mit großen Mustern, das etwas exotisch wirkte. Es stammte aus Italien, wie ich später erfuhr. Renata, so hieß sie, liebte Italien, sprach sehr gut italienisch und war schon mehrmals dort gewesen, was sie in ihrer Begeisterung bestärkt hatte. Während ich mich vorstellte, sah sie mich, meinen Mantel, den Koffer aufmerksam an, dann bat sie mich hinein und wir sprachen im Wohnzimmer weiter.
„Zagajewski, wann kommt er? Er soll zurückkommen. Es ist eigentlich eine Zeit, die ein Schriftsteller nicht verpassen darf.“
„Ein Freund von Adam, den ich vor ein paar Tagen traf und der auch schreibt, sagte, jetzt sei keine Zeit zum Schreiben, sich zu konzentrieren, Adam solle lieber noch warten, ehe er zurückkommt.“
„Es ist immer mal Zeit zum Schreiben und mal Zeit zum Leben. Ich habe Zagajewskis Arbeiten auch immer so verstanden, daß er lebte und dann darüber schrieb. Ich möchte keine Stunde missen. Das war für mich im Krieg schon so. Ich war noch ein Kind, aber es war schlimm für mich, daß wir von Warschau weggingen. In Warschau passierten so viele Dinge, dort, wo wir dann waren, nicht. Das war schrecklich für mich, ich wollte dabei sein. Es war nicht schön, was geschah, es war ja Krieg, viele starben, auch von meinen Freunden und Verwandten. Aber ich wollte es sehen, miterleben und nicht so weit weg sein. Ich kann mir nicht vorstellen, jetzt woanders zu sein, das ist unmöglich.“
Sie lebte in einer Drei-Zimmer-Wohnung mit ihrem Sohn, der verreist war, und dessen Zimmer ich deshalb bekam und einer sehr alten Frau, die kaum noch gehen konnte.
„Das ist meine Großmutter – nicht meine Großmutter. Ich hab sie im Krieg aufgenommen, ich hatte keine Eltern mehr. Ich kann sie unmöglich ins Krankenhaus geben, die Bedingungen sind dort zu schlecht. Keine Ärzte, keine Pfleger. Krieg ist etwas Schreckliches. Schrecklich.“
Sie zeigte mir das Zimmer ihres Sohnes, das nicht groß war, aber vor allem nach hinten, zum Garten hin lag und ruhig war. Es wirkte seltsam anonym. Eine mit dem Zirkel angefertigte Zeichnung hing an der Wand, eine Rosette aus bunt ausgemalten Apfelsinenschalen- Zweiecken. Kein Zweifel, daß er Ingenieur werden wollte. Sie nickte als Antwort auf meine Frage mit einem kleinen Seufzer. Ihre Liebe zu Sprachen, zur Dichtung, zur Musik – nichts, nicht einmal ihre Freude am Reisen konnte sie mit ihm teilen, er hatte sich als Ersatz für den fehlenden Vater eine Männer- Wissenschaft erwählt.
Nun ging ich täglich hinaus, für viele Stunden in diese Stadt mit den vielbefahrenen Straßen, den vielen leeren Plätzen und Häuserlücken. Wie sie einmal gewesen war, konnte ich mir nicht vorstellen, sie blieb eine Ruine ohne inneren Zusammenhang. Oft strich ich um den unglaublich widerwärtigen Kulturpalast herum, diesen Turm der bösen Geister, dessen Spitze eigentlich in einen Schwarm schwarzer, schreiender Vögel ragen sollte, statt in blauen Himmel; ein Geschenk an das polnische Volk, als der Diktator in Moskau schon zwei Jahre physisch tot war. Groteske Skulpturen standen auf Sockeln doppelter Menschengröße oder in Nischen als Neuzeitapostel: martialische Arbeiter, Arbeiterinnen, mit Maschinenteilen in Händen, dickleibigen Büchern im Arm, auf einem gemeißelten Buchumschlag stand in jeweils einer Zeile MARX ENGELS LENIN zu lesen, darunter war eine Zeile etwas ungeschickt ausgemeißelt worden. Am besten fand ich aber eine junge Intelligenzlerin, die vorgab, etwas zu schreiben – mit einem dermaßen klobigen Griffel, dem Inbild der offiziellen Weisheit, daß es schwer vorstellbar war, wie sie den in Bewegung setzte.
Auf einem der kahlen Plätze fragte ich einen Passanten, wo das jüdische Ghetto gewesen sei. Er verstand erst nicht, dann sah er sich irritiert um und sagte:
„Ja, es muß hier gewesen sein, da drüben stehen noch Häuser, die dazugehörten. Es sind die einzigen, mehr gibt es nicht. Vielleicht waren das auch die ersten polnischen Häuser hinter der Ghettomauer, ich weiß nicht.“
Eine kurze Häuserzeile, mehr war nicht übrig geblieben. Menschen gingen in die Häuser und wieder hinaus, überquerten die hügelige Fläche bis zur nächsten Straße.
Abends saß ich dann mit Renata in ihrer Küche und erzählte von meinen Exkursionen. „Ja, der Kulturpalast, ein ungeliebtes Geschenk, das wir uns nicht mehr vom Hals schaffen können. Darin sind die Russen Meister. Aber wissen Sie,“ – wir sprachen uns mit Vornamen an, blieben jedoch beim vornehmen Sie – „wissen Sie, daß es darin ein großes Theater gibt?“ Das konnte ich mir vorstellen, warum nicht. „Teatr Dramatycne heißt es und wird von einem unserer besten Regisseure geleitet. Andrzej Wajda kennen Sie im Westen natürlich auch. Er macht wunderbare Filme, aber als Theaterregisseur schätze ich ihn nicht, es wirkt alles wie Kino. Aber dort in diesem Bau machen sie wirklich großes Theater.“
Vorsichtig fragte ich sie nach Jacek Kuron, ich zeigte ihr die Adresse, ob sie mir sagen könne, wo das sei.
„Zu Kuron wollen Sie?“ Sie sah mich neugierig an. „Ich kenne ihn, unsere Familien sind schon lange befreundet. Er wohnt ganz in der Nähe, ich weiß aber nicht, ob er gerade in Warschau ist, er ist in letzter Zeit ständig unterwegs. Aber wenn es Ihnen recht ist, werde ich mich erkundigen. Darf ich fragen, was Sie von ihm wollen?“
„Ich habe einen Brief für ihn von tschechischen Freunden, die er sehr gut kennt.“
„Und den wollen Sie nicht mit der Post schicken.“
„Natürlich nicht.“
„Natürlich nicht.“ Sie lächelte. „Und ich soll ihn auch nicht überbringen?“
„Seien Sie mir bitte nicht böse, aber es ist für mich auch eine gute Gelegenheit, ihn kennenzulernen. Vor sieben Jahren, glaube ich, habe ich das erste Mal von ihm gehört und mit Freunden, damals noch in der DDR, das Buch gelesen, das er zusammen mit Modzelewski geschrieben hat.“
„Ja, das war auch für uns sehr wichtig. Selbst für jemanden wie mich, die ich mit der Partei nie etwas Positives verbunden habe, war es ermutigend, zu erfahren, wie zwei junge Intellektuelle den Bruch mit ihr vollziehen und begründen.“
„Sie werden mich also verstehen. Es ist etwas anderes, als bloße Neugier.“
„Ach, ihr ernsthaften jungen Leute. Ich wollte Sie nur ein wenig auf den Arm nehmen. Machen Sie sich keine Sorgen, wenn ich ihn erreiche, werden Sie sehr gut vorgestellt werden.“
Am nächsten Tag schüttelte sie den Kopf: „Er ist in Poznan, kommt aber vielleicht morgen zurück.“
Am darauffolgenden Tag wieder Kopfschütteln. „Er war nur kurz da, hat Wäsche gewechselt und ist gleich wieder weitergefahren. Jetzt ist er in Bydgoszcz. Am besten, ich gebe Ihnen die Telefonnummer und Sie versuchen selbst, ihn zu erreichen. Am Wochenende ist die Chance am Größten.“
Bis dahin waren noch drei Tage. Renata hatte mich eingeladen, so lange zu bleiben, wie ich wolle, das Zimmer stehe ohnehin leer. Immer wieder versuchte ich in den folgenden Tagen, Kuron telefonisch zu erreichen, immer vergebens. Am Samstag hatte ich, doch überrascht, seine Stimme im Ohr, rauh und sonor, eine starke Whisky-Stimme, womit ich ihm nichts unterstellt haben will.
„Ich habe schon gehört, daß Sie mich sprechen wollen. Entschuldigen Sie, daß es so lange gedauert hat, aber vielleicht können Sie sich vorstellen, daß unsere Situation außerordentlich schwierig ist. Wann können Sie kommen? Sofort? Gut, dann kommen Sie.“
Fünf Minuten später stand ich vor seiner Tür. Seine Frau bat mich herein, er sei im Arbeitszimmer. Die Wohnung war geräumig und angenehm spartanisch eingerichtet, das Arbeitszimmer eher klein, und hinter dem etwas schräg gestellen dunklen Schreibtisch, der ihm zweifellos auch als Barriere diente, saß er in einem rot-schwarz karierten Flanellhemd, kurzgeschorenem ovalen Schädel und wirkte ungeheuer müde, dicke Tränensäcke hingen unter den Augen.
„Kein Wunder“, knurrte er, als ich ihn darauf ansprach,
„Ich hab ja schon viel gemacht, Heizer in Nachtschicht und was weiß ich, aber noch nie hab ich so eine Scheißarbeit gehabt.
Ich bin jetzt die Feuerwehr, die Streiks löscht. Nicht bricht, bitte sehr, sondern löscht. Und da so viele Jahre, die für die Arbeiter verloren waren, nachzuholen sind, streiken sie im Moment überall. Es ist eine Art Volkssport geworden, den wir uns einfach nicht leisten können. Wir vermitteln, hören beide Seiten an und schlagen Lösungen vor. Nach so vielen Jahren Kommandowirtschaft ist die Kommunikation zwischen Betriebsleitung und Arbeitern natürlich gestört, es gibt heftige Aversionen, auch Haß. Nie hätte ich gedacht, daß ich sowas machen muß. Streik, Aufstand, Widerstand – wie könnte es davon jemals zu viel geben. Glauben Sie, wenn die Arbeiter diese Parteibonzokratie zum Teufel jagen würden, wär ich bekümmert? Das Dumme ist, wir sind nicht allein – und wären wirs, wären wir kaum in dieser Situation.“
Er lachte rauh und wischte sich Tränen aus den Augen, die eher seiner Müdigkeit geschuldet waren.
„Ja, nicht allein, sagen Sie. Ich habe da einen Brief für Sie mitgebracht, von Jaroslaw Š. und seinen Freunden in der Tschechoslowakei. Ich soll Sie herzlich grüßen.“
„Haben Sie persönlich mit ihm gesprochen?“
„Ja, und er hat mich eindringlich gebeten, Ihnen auch persönlich zu sagen, wie wichtig ihm ist, was sie schreiben.“
„Ich muß es ja erst mal lesen, einen Augenblick bitte.“ Er entfaltete den Zettel, setzte sich eine Brille mit dickem Rand auf die Nase und entzifferte die winzige Schrift in Augenhöhe.
„Gut. Selbstverständlich haben wir über diese Fragen auch nachgedacht und sind keineswegs anderer Ansicht. Es ist allerdings wahr, die Stimmung im Land ist anders, der allgemeine Tenor ist, wenn wir es nicht schaffen, ist das unsere Niederlage, dann sind wir verantwortlich. Wenn aber die Russen Panzer schikken, ist es nicht unsere Schuld. Ich höre das auch von guten Freunden, aber es ist ein bißchen zu einfach, etwas bequem. Wie sagen die Ärzte gern, wenn sie unter sich sind? Die Lage ist ernst, aber Hoffnung haben wir auch keine. Solidarnosc hat zu viele Probleme auf einmal zu lösen. Die Verankerung bei den Menschen ist gut, sehr gut; auch in der jungen Intelligenz, was lange ein Problem war. Jetzt bildet sich der unabhängige Studentenverband, und die Streiks der Studenten unterstütze ich, wo ich nur kann. Aber es ist wahr, wir haben fast keine Verbindung zu den Soldaten, in die Armee. Die ist traditionell abgeschottet, das ist ein ernstes Problem. Darin haben die tschechischen Freunde recht, darüber müssen wir noch einmal nachdenken. Werden Sie Jaroslaw auf der Rückreise treffen?“
„Leider nicht, ich habe nur ein Transitvisum. Aber seine Tochter werde ich in Prag auf jeden Fall wiedersehen.“
„Also erwartet er keine sofortige Antwort. Richten Sie bitte Grüße aus. Wir nehmen ihre Besorgnisse ernst. Ich werde seinen Brief weitergeben. Kann ich etwas für Sie tun, was wird ihre nächste Station sein?“
„Gdañsk.“
„Haben Sie die Adresse der dortigen Solidarnosc- Zentrale? Sie liegt direkt im Zentrum, kaum zu verfehlen. Dort arbeitet eine Freundin von mir in der Abteilung für Dokumentation, ich glaube, das wäre sehr interessant für Sie, hier ist ihr Name.“ Und damit überreichte er mir einen Zettel. Sein Händedruck war sehr kraftvoll.
„Gute Reise, und viele Grüße an Ihre Freunde.“
„Alles Gute für Sie, wir alle drücken den Polen die Daumen. Eine Frage noch: Modzelewski – sind Sie mit ihm noch befreundet?“
„Aber ja, aber ja, wir haben uns nie aus den Augen verloren. Wissen Sie, wenn man zusammen im Gefängnis war und sich dort unter dem Druck nicht entzweit hat, warum dann später? Wir treffen uns immer wieder mal, sitzen eine Nacht zusammen und trinken was. Für die Lauscher muß das jedesmal eine herbe Enttäuschung sein, außer sie haben Freude an neuen Witzen. Über Politik reden wir dann nicht viel, wozu auch, wir wissen, wie der andere denkt.“
Zwei Tage später war ich reisefertig und mit Koffer und Fototasche auf dem Bahnhof nach Gdañsk, abends, weil ich diesmal den Nachtzug nehmen wollte, als ich plötzlich vom gegenüberliegenden Bahnsteig in bläulichem Licht den starren Blick aus zinnernen Augen wahrnahm. Die Gegenprobe, ein wenig zielloses Dahinschlendern, Bahnsteige wechseln, zum Ausgang gehen, machte klar, daß ich "sie" auf den Hacken hatte. Siedend heiß fiel mir ein, weshalb, was mein Fehler gewesen war, der einzige bisher, dafür schwerwiegend. Ich hatte mit Kuron telefoniert, und das bedeutete, daß ich sie auch nicht mehr loswürde. Zwar hatte ich meinen Namen am Telefon nicht genannt, aber sie mußten ja nur in der Nähe seiner Wohnung warten, um zu sehen, welcher Trottel da käme. Was war zu tun? Erst mal nichts. Sie waren zwar lästig, aber nicht bedrohlich. Wenn ich zu Bujak wollte, mußte ich mir allerdings etwas einfallen lassen. Wenn ich sie nicht abhängen konnte, durfte ich nicht zu ihm gehen, das war klar. Für schwerwiegender hielt ich das Problem der Rückreise. Sie würden mich aus dem Zug holen und stundenlang festhalten, erst die polnischen Grenzer, dann die tschechischen.
Bis zur Abfahrt des Zuges hatte ich noch Zeit, ich ging zur Schalterhalle und besorgte mir Streckenpläne und Fahrzeiten, ich mußte einen Weg finden, wie ich mich durchmogelte. Hier auf dem Bahnhof waren sie zu zweit, soviel ich sah, einer würde also im Zug mitfahren.
Wir rasten durchs Dunkel, und während mein Begleiter im Nachbarabteil auf mich aufpaßte, war ich die halbe Nacht damit beschäftigt, Pläne zu machen.
Am nächsten Morgen erwachte ich blinzelnd in leicht verschleiertes Sonnenlicht, das wie von einem blinden Spiegel zurückgeworfen, über einer flachen, mit feinem weißen Schnee bestäubten Landschaft lag. Wo waren wir? Ich sah Vorgärten, die kahlen beschnittene Zweige von Obstbäumen, Zäune sich weithin erstrecken. Zweifellos ein Vorort von Gdañsk, das wir um diese Zeit erreichen sollten. Ein Bahnsteig flog vorbei, ich konnte das Schild nicht entziffern. Halt, nachdenken. Wo mußte ich aussteigen? Der junge Mann, dessen Adresse ich hatte, wohnte in einem der Vororte, wie hieß der noch – Gdañsk-Innowalski? Verdammt, ich wußte es nicht mehr, lediglich, daß ich vier Stationen vor dem Hauptbahnhof aussteigen sollte. Der zweite Vorortbahnhof, an dem wir gehalten hatte, lag schon hinter uns. Ich warf mir Mantel und Schal über, schnappte die Tasche, den Koffer und eilte zur Tür. Der nächste war es keinesfalls, der hieß ganz anders, aber jetzt, dieser? Ich stieß die Tür auf und stieg aus, der Zug hatte kaum gehalten – und fand mich allein auf einem gottverlassenen Perron wieder. Den Spitzel war ich immerhin los, wie ich erstaunt feststellte. Ein wenig unentschlossen trieb ich die Straße entlang, es war wieder kalt geworden, ein Café zu finden, wär jetzt nicht schlecht. Aber hier, wo ich keinem Menschen begegnete? Immerhin wußte ich, daß ich in Fahrtrichtung, also in Richtung Gdañsk lief, und richtete mich darauf ein, die nächsten ein, zwei Stunden zu Fuß zu gehen, als ich an einer Ecke ein unscheinbares Restaurant entdeckte, zu dessen Tür vier Stufen hinaufführten. Eine weitere Überraschung: die Tür ließ sich öffnen! Ich trat ein, stellte den hier irgendwie zu großen Koffer an die Wand und setzte mich an einen der leeren quadratischen Holztische unweit der Tür, bestellte eine Portion Rührei, Kaffee und holte mein Notizbuch hervor. An einem Tisch auf der anderen Seite der Eingangstür saßen junge Leute, die mich und den Koffer musterten, worauf sie sich leise unterhielten, drei Jungs und ein pummliges, unschönes Mädchen. Die Gesichter der Jungs gefielen mir gar nicht, zu viele harte Linien, kalte Augen. Nachdem ich gegessen hatte, ging ich zum Wirt, um ihn zu fragen, wo ich wäre und wie ich zu dem Ort käme, zu dem ich wollte. Plötzlich stand das Mädchen neben mir und radebrechte etwas, wobei sie von den anderen beobachtet wurde. Sie wollten mir den Weg zeigen, soviel verstand ich. Sie redete auf mich ein und gestikulierte, ich solle ihr folgen. Die anderen waren aufgestanden und hatten das Restaurant verlassen. An der Tür warf ich einen Blick zum Wirt, der sich wohl Mühe gab, nach nichts auszusehen. Sie ging die Stufen hinunter, die anderen waren nicht zu sehen. Das Mädchen winkte, ich folgte ihm zur Ecke, und da standen sie. Warum sollte ich zu ihnen gehen? Ich schüttelte den Kopf, und zeigte, sie sollten zu mir kommen. Das Mädchen stand einige Schritte weiter, zwischen den Jungs und mir. Dann faßte es offensichtlich einen Entschluß, bedeutete mir, ins Restaurant zurückzugehen und ging selbst zu den anderen. Der Wirt sah noch undurchdringlicher drein, der Koffer und die Tasche standen immerhin noch da. Bald darauf kam das Mädchen, allein, setzte sich zu mir an den Tisch und lächelte zuversichtlich. Sie würde mir den Weg zeigen, wenn ich ein Taxi bestellte und sie mitnähme. Das war kein schlechter Vorschlag, fand ich, ein Taxi könnte hier nicht teuer sein, und für eine Weile könnte ich ihre Gegenwart wohl ertragen, hatte sie mich doch, wie ich annahm, vor ihren Kumpanen gerettet. Das Taxi wurde gerufen, sie bekam einen Kaffee, dann bezahlte ich und das Taxi kam. Vergebens versuchte ich sie auf den Platz neben dem Fahrer zu komplimentieren, sie müsse ihm schließlich den Weg zeigen, doch stand meine Fototasche Zudringlichkeiten im Wege. Wir verließen den tristen Vorort, um in eine der erstarrten Betonkästenexplosionen zu geraten. Wo es hinwolle, fragte ich das Mädchen. Dümmliches Lächeln war für mich keine hinreichende Antwort. Wo es aussteigen wolle. Es wollte mit mir aussteigen. Endlich war ausgesprochen, worüber sie mit den Jungs verhandelt hatte. Ich ließ den Fahrer halten und öffnete ihr die Tür. Sie war wirklich verblüfft, sogar beleidigt, weshalb ich ihre weiße und etwas formlose Hand küßte. Erleichtert atmete ich auf, als wir weiterfuhren. Wir fanden bald den richtigen Eingang, den ich wohl ohne Hilfe des Taxifahrers nie gefunden hätte, er lud den Koffer aus und verabschiedete sich sehr freundlich, die Szene mit dem Mädchen hatte ihm wohl gefallen. Ich klingelte, es war noch früh am Tag, deshalb bekam ich eine quäkende Stimme zu hören, was mich mächtig freute. Er verstand mich nicht, ich ihn nicht, also rief ich, er solle mir einfach nur sagen, im wievielten Stock er wohne, ich käme herauf. Im fünften Stock, die Tür war nur angelehnt.
„Komm rein!“ rief er, „ich bin im Bad, muß gleich los!“ Ich hörte, wie er sich rasierte, und dann stand ein junger, fast zu dünner Mann mit halblangen dunklen Haaren und schwarzen Augen vor mir.
„Woytek. Woher hast du meine Adresse? Tut mir leid, ich habs eilig. Was hast du vor, kannst du mich begleiten? Ich fahre zur Uni. Du hast Glück gehabt, daß ich noch da bin.“ Und mit Blick auf meinen Koffer: „Was machen wir mit dem, kannst du den hier lassen?“
„Kommt drauf an. Kann ich bei dir übernachten?“
„Kein Problem. Wenn es dir nichts ausmacht, daß es etwas weiter weg ist vom Zentrum.“
„Deine Adresse hab ich übrigens von Andrzej.“
„Ach, was macht er, bereitet er schon wieder einen Kongreß vor, oder einen Umsturz?“
„Sicher, sicher. Aber ich bin noch nicht eingeweiht. Übrigens hab ich wirklich Glück, daß ich jetzt hier bin.“ Und schon auf dem Weg zur Bahnstation erzählte ich ihm, wo ich ausgestiegen war, und von der Begegnung mit den drei Jungs und dem Mädchen.
„Du bist zwei Stationen zu früh ausgestiegen. Verläßt du dich immer auf dein Glück? Warum bist du mit den Banditen rausgegangen?“
„Ich weiß nicht. Ich hab gedacht, wer sollte mir schon was tun.“
Er sah mich kurz aus sehr schwarzen Augen an:
„Wir haben jetzt wenig Zeit für solche alten Geschichten, aber meine Großmutter würde über deinem Kopf nach deinen Schutzengeln suchen und sagen, sie sind sehr tüchtig.“
Alte Geschichten. Das Wort hatte sich in mir festgesetzt und zog Kreise, wie von einem Stein, der ins Wasser gefallen war. Wieso haben wir für alte Geschichten keine Zeit, wenn wir versuchen, das Leben neu zu ordnen? Banditen – er hatte die vier Banditen genannt – das ist auch eine alte Geschichte, und es gibt sie immer noch. Jetzt, da so viele Jahre des Schweigens, des Verschweigens hinter uns lagen, mußten viele Geschichten neu erzählt werden. Der erschossene Arbeiter, der auf einer Tür durch die Straßen der Stadt getragen wird, ist das nicht auch eine alte Geschichte? Und wie die Streiks im vorigen Jahr begonnen hatten, eine alte Geschichte, und wir selbst, die wir hier entlangliefen und mit einem Vorortzug nach Gdañsk fuhren, waren wir nicht vielleicht jetzt schon, mit unseren Hoffnungen und Illusionen, unseren Träumen und Ängsten – alte Geschichten, denen morgen nur noch mit überlegenem Lächeln zugehört werden würde?
„Ach, das Denkmal vor der Leninwerft, ja, ich habe Fotos davon gesehen.“ Nur mit halbem Ohr hatte ich seiner Rede zugehört, und war mir nun bewußt geworden, daß er davon schwärmte. „So ein Riesenturm aus Edelstahl, an dessen Spitze sich Anker in den Himmel recken, ich weiß nicht. Ihr liebt es, weil es ein Geschenk an die Regierung ist, das sie nicht mehr loswird. Aber reiht es sich nicht in die Türme ein und macht ihnen Konkurrenz, die dem Menschen von seiner Kleinheit künden? Kann so ein Monster die Arbeiter in schlechteren Zeiten daran erinnern, daß sie einmal Menschen waren?“
„Dafür gibt es ja die Reliefs, die von unserer Geschichte erzählen, den Aufständen, Streiks, Demonstrationen, die niedergeschlagen wurden, du siehst die Bullen mit Knüppeln hinter den Arbeitern herrennen, und dann die Streiks vom letzten Jahr: der Elektriker Walensa auf den Schultern seiner Kollegen, die Verhandlungen mit der Regierung, das hochgehaltene unterschriebene Protokoll.“
"Es gibt wohl Geschichten, die sich nicht gleich erzählen lassen. Wenn ich höre, was die Menschen selbst erzählen, wenn ich die Berichte von Arbeitern lese, wie der Streik begann, dann bin ich dabei, es berührt mich unmittelbar. Doch sind es vor allem die Ereignisse, die mich berühren. Wenn deren Erschüttrerungen aber verklungen sind, muß es etwas anderes sein, was uns selbst dann berührt, wenn wir es nicht wollen, und selbst dort, wo wir es nicht wollen – dort, wo wir die Geheimnisse unseres Lebens gut verwahrt glauben. Sag mal, du hast doch gute Verbindungen in die Werft, kannst du mir nicht helfen, hineinzukommen?“
„Vor einem halben Jahr wäre das noch kein Problem gewesen, da gehörte die Werft den Arbeitern, aber jetzt ist das anders, die versuchen, alle ihre alten Regeln wieder durchzusetzen. Sie kontrollieren wieder sehr genau, und Ausländer, die nicht mit Chauffeur im Mercedes vorgefahren kommen und dicke Geschäfte versprechen, sind wie früher schlecht angesehen. Aber mir wird schon was einfallen.“
Unterdessen hatten wir mit dem Zug die Landschaft der Kleingärten hinter uns gelassen, die seltsam zerrissen, unruhig, eben polnisch war, und doch gestutzt und niedrig gehalten, und fuhren in die Stadt mit ihren alten stolzen Gebäuden und den rechtwinkligen Neubauten. Woytek mußte zur Universität, ich wollte eigene Wege gehen, wir verabredeten uns für den Abend in einem Café, doch fragte ich ihn noch, wo ich das Institut fände, in dem Jerzy Bulak arbeitete.
„Ich werde dich hinbringen, er kennt mich, und von dort es ist nicht weit zu meinem Institut.“
Im Souterrain eines grauen Gebäudes klopfte er an die Tür, ein verabredetes Zeichen. Nichts tat sich. Er klopfte noch einmal und wir warteten wieder eine Weile und wollten schon gehen, als von innen aufgeschlossen und die Tür geöffnet wurde. Ein aschblonder Mann Mitte dreißig in weißem Kittel schaute durch den Türspalt und fragte, was wir wollten. Woytek stellte mich etwas verlegen vor, und fragte, ob ich mit Bulak sprechen könne.
„Moment.“ Die Tür schloß sich wieder für eine Weile, dann wurde sie weiter geöffnet und ich reingewunken, und nachdem ich mich von Woytek verabschiedet hatte, stieg ich vier oder fünf Stufen hinunter und stand einem untersetzten, kurzhaarigen Mann in Jeans und Pullover gegenüber, der mich aus hellblauen Augen anstarrte und die Hand, die ich ihm entgegenstreckte, ignorierte. Zunächst irritiert, begriff ich doch schnell, daß hier eine Prüfung über mich erging. Wie lange wir uns so gegenseitig anstarrten, eine Minute oder mehr, weiß ich nicht, plötzlich belebte er sich und gab mir mit flüchtigem Lächeln die Hand, und ich konnte die Grüße von Frau M. ausrichten.
„Seit wann besteht Solidarnosc im Untergrund?“ fragte ich.
„Seit den Unruhen von 1970, die blutig niedergeschlagen worden sind, haben wir die Notwendigkeit einer solchen Organisation gesehen und mit dem Aufbau begonnen. Die Arbeit begann 1972 oder 73.“
„Warum führen Sie Solidarnosc im Untergrund jetzt noch weiter, liegt darin nicht die Gefahr einer Spaltung?“
„Wir haben lange darüber nachgedacht. Es ist allerdings so, daß die heute große Gewerkschaft ihre Arbeit auch im Untergrund begann, wie Sie vielleicht wissen. Wir kommen aus einem Stall und arbeiten auch weiter zusammen. Wir machen ihr ja keine Konkurrenz, treten nicht mit anderem Programm an oder so etwas. Nur, wenn sich die Hoffnungen auf eine ungestörte Fortsetzung ihrer Arbeit – ungestört nur nach unseren Maßstäben – nicht erfüllen und sie mit Gewalt zerschlagen wird, gibt es Strukturen und Kräfte, auf die wir sofort zurückgreifen können. Verstehen Sie, wir sehen uns als eine Art Brücke. In einem solchen Fall, der, ich weiß nicht, ob Sie mir da widersprechen wollen, nach unserer Auffassung sehr wahrscheinlich ist, werden diejenigen, die jetzt bekannt und charismatisch sein müssen, um erfolgreich zu sein, sofort verhaftet, interniert, wenn nicht sogar liquidiert werden. Ihre Arbeit muß von Menschen fortgesetzt werden, die denselben Geist haben, aber der Polizei unbekannt sind und unauffällig agieren. Darin haben wir große Erfahrung. Wir haben die jetzigen Führer teilweise beschützt, teilweise beraten, Beziehungen aufrecht erhalten oder geknüpft, Zeitungen herausgegeben, gedruckt und verteilt, über immerhin fast zehn Jahre. Eine Zeitung, der ‘Robotnik’, ist statt ihrer Herausgeber berühmt geworden.“
„Ich soll und will auch fragen, was mit Anna Walentinowicz geschehen ist, warum sie weder in der Öffentlichkeit, noch bei internen Zusammenkünften neben Walensa und den anderen zu sehen ist.“
Für eine Weile schaute er aus dem geriffelten Souterrainfenster.
„Das ist nicht so einfach zu erklären. Ich kenne Frau Walentinowicz schon lange, länger als Walensa. Sie war immer eine starke und mutige Frau, und ohne sie wären wir heute nicht da, wo wir sind. Vielleicht hat es sie zu viel Kraft gekostet, ich weiß es nicht. Es gibt Stimmen, die sagen, sie wäre das Opfer von Intrigen oder Machtkämpfen. Ich kann das aus meiner Erfahrung nicht bestätigen. Gewiß gibt es immer wieder persönliche Empfindlichkeiten, Mißverständnisse, Meinungsverschiedenheiten, das war auch schon früher nicht anders und hat die Arbeit eher befruchtet. Unbequem war sie immer. Doch ich muß aufrichtig sagen, daß ich sie ab einem bestimmten Zeitpunkt auch nicht mehr verstanden habe. Sie machte immer öfter dunkle Andeutungen, sprach nicht mehr offen mit uns, war einfach nicht mehr der Mensch, den wir kannten. Manchmal denke ich, der Druck hat zu plötzlich nachgelassen. Ich hoffe, daß wir sie bald wiedersehen werden.“
„Ist sie verreist?“
„Vielleicht ist das nicht ganz der richtige Ausdruck, sie ist zur Zeit in einer Klinik, bei unseren Ärzten selbstverständlich. Es ist keine geschlossene Anstalt, eher ein Sanatorium, wo sie sich ausruhen kann.“
Es verstand sich von selbst selbt, daß ich von ihm kein Foto machte, mit kräftigem Händedruck wurde ich verabschiedet, die Tür hinter mir wieder sorgfältig verschlossen. Draußen war es noch immer hell und kalt, leichte Wolkenschleier zogen langsam über den Himmel. Ein wenig ziellos lief ich umher, sah mir die Hafenanlage an, alte, stillgelegte Kräne und neue, die ebenfalls nicht arbeiteten, stand unversehens vor dem Haupttor der Leninwerft, sah Arbeiter in Gruppen hinausgehen, Frauen, die im Eingang warteten, Kinder, die auf ihre Väter zuliefen. Es war Schichtwechsel, die Mittagsschicht hatte gerade begonnen. Nicht weit entfernt sah ich auch das Monument aus Edelstahl in der Sonne schimmern. An seinem Fuß lag ein Berg von Kränzen, auch ganz neuen. Menschen standen herum und sprachen miteinander.
Von hier aus fuhr ich in die Innenstadt zum Solidarnosc- Hauptquartier. Es lag in einer Seitenstraße in einem dreistöckigen Gebäude, an dessen Eingangstüren große Plakaten mit dem berühmten Schriftzug klebten. Eine Frau mit Einkaufstasche und einer billigen Strickmütze auf dem Kopf ging vor mir hinein. Ich suchte nach der Dokumentationsabteilung. Sie war im dritten Stock. Jemand, den ich gefragt hatte, brachte mich hinauf, klopfte an und schob mich durch die Tür. An einem kleinen Tisch saß eine Frau Ende Dreißig, die mich bat zu warten, es sei eben jemand bei ihr, womit sie auf die ältere, sehr kleine und schüchterne Frau ihr gegenüber wies. Da es im Flur kalt war, sollte ich mir einen Stuhl nehmen und im Zimmer warten. Sie wandte sich der kleinen Frau wieder zu, schrieb ab und zu etwas auf, während sie sehr aufmerksam zuhörte, was die andere mit leiser Stimme sagte. Nach geraumer Weile stand die kleine Frau auf und verabschiedete sich mit Verbeugungen, Dankesbezeugungen und versuchte die Hand der Jüngeren zu küssen, die sie ihr jedoch entzog.
„Das ist zurzeit eine unserer Hauptbeschäftigungen.“ sagte Alina mit leicht geröteten Wangen, nachdem wir uns begrüßt hatten. „Diese Frau erzählte, daß ihr ältester Sohn 1970 schwer verletzt wurde und kaum noch arbeiten kann, aber keine Rente bekommt, weil er als Staatsfeind galt, was schlimmer war, als Bandit zu sein. Sie hat natürlich keine Dokumente, wie ihr Sohn verletzt wurde. Wir müssen nun mühsam recherchieren, was ohne Unterstützung von Staatsanwälten, die mit uns zusammenarbeiten, unmöglich wäre. In einigen Fällen ist es uns sogar gelungen, Polizeiakten einzusehen. Wie mühsam das alles ist! Viele kommen auch einfach nur zu uns, um ihre Geschichte zu erzählen, die sie oft nicht mal ihren Nachbarn anzuvertrauen wagten. Sie soll nicht verloren gehen, sagen sie. Dann schalte ich das Tonband an, nehme alles auf, und später wird es abgeschrieben. Wir arbeiten an einem großen Archiv, siehst du, die Schränke hier sind voll. Wir haben auch ein Fotoarchiv, aus dem übrigens die Fotos stammen, die du in Kraków gesehen hast.“
Von meinen Besuch in der Ausstellung hatte ich ihr erzählt. Sie hatte intensive Augen, eines jener Gesichter, die so viel innere Weite ausdrücken, daß ihr Gegenüber wie von selbst zu sprechen beginnt, vielleicht einfach, um sich in ihr nicht zu verlieren.
Es klopfte, und ein kleiner älterer Mann mit Schiebermütze auf dem Kopf und kurzem Mantel trat ein. Sie begrüßten sich sehr freundschaftlich, offensichtlich ein alter Bekannter.
„Darf ich euch miteinander bekannt machen? Ein Kollege von dir, wenn ich das so sagen darf. Er hat das Foto gemacht, über das du eben gesprochen hast.“
Begeistert schüttelte ich ihm die Hand und stammelte Lobesworte, doch freundlich bescheiden wehrte er ab:
„Ich habe doch gar nichts Besonderes getan. An jenem Tag gab es Aufläufe, wir hörten immer wieder Schüsse, rochen Tränengas, und irgendwann nachmittags, meine Frau war gerade bei einer Nachbarin, hörte ich plötzlich Rufe auf der Straße und ging zum Fenster, da sah ich die Leute mit der Tür und dem Toten darauf und habe ganz automatisch zur Kamera gegriffen, die im Regal lag. Ich habe gar nicht nachgedacht. Und dann waren sie auch schon vorbei.“
„Und was haben Sie danach gemacht?“
„Danach? Ja, ich bin hinuntergegangen, habe aber kein Foto mehr gemacht. Ich glaube, ich habe die Kamera gar nicht mitgenommen. Dann hatte ich das Foto vergessen. Nicht, was geschehen war, aber an das Foto dachte ich überhaupt nicht mehr. Irgendwann gab ich den Film zum Entwickeln, und als ich ihn wieder abholte, sah mich der Apotheker so komisch an, winkte mich nach hinten und zeigte mir das Bild. Zuerst war ich erschrocken, und der Apotheker, der meinte, das sei seinetwegen, beruhigte mich. Wir kannten uns ja schon lange.“
Mit einer Bescheidenheit, die voller Wärme und Würde war, verabschiedete er sich wieder, er hatte Alina nur eben Guten Tag sagen wollen.
Nicht viel später klopfte es wieder, und ein junges, hübsches Paar kam herein, blieb aber in der Nähe der Tür stehen. Der Junge hatte seine langen blonden Haare zu Zöpfen geflochten, das Mädchen sah sich mit großen Augen vorsichtig um.
„Wir sind aus Deutschland“, sagten sie und schwiegen, als würde das allein schon genug erklären.
„Nun, und was wollen Sie? Das hier ist die Abteilung für Dokumentation.“
„Wir möchten – Plakate. Ein paar Plakate.“
„Was für Plakate?“
„Solche wie dieses, oder das hier, wenn das möglich ist. Vielleicht können wir welche kaufen“, fügte er hinzu und ließ die Fingernägel der linken Rückhand über das Papier eines der Plakate trommeln, die an der Wand hingen.
„Das wird schon möglich sein“, sagte Alina und schickte sie in ein anderes Zimmer. Eine Weile saß ich noch bei ihr, dann verabschiedeten wir uns voneinander.
„Alles Gute für eure Arbeit, für Polen.“
„Danke. Für dich auch. Gute Reise, und komm wieder vorbei.“
Ein rosa Abendhimmel empfing mich, dunkler werdende und wie Schatten höher wachsende Hausmauern. Ging an Schaufenster entlang, in denen das Wenige, das es zu kaufen gab, mühevoll aufgestapelt war, fand Woytek im Café über Papiere gebeugt und fuhr mit ihm hinaus zu seiner Wohnung.
Am nächsten Tag brachte er mich zu einer Fertigungshalle außerhalb der eigentlichen Werft, in der er den Abteilungsleiter kannte und verließ mich dort. Mehrere Stunden blieb ich und konnte ungehindert fotografieren. Was mich schon lange beschäftigte, am Anfang meiner Entdeckung sogar faszinierte, war die Vielfalt der Formen, des Ausdrucks, zu der die scheinbar uniforme Arbeitskleidung fähig war. Eine simple Kopfbedeckung beispielsweise, irgendein Deckel, eine Kappe, eine Wollmütze, ein kleiner Hut, ein Käppi und die Art der Faltung, die von niemandem abgeschaut, sich über Jahre herausgeformt hatte, konnte zu einer Art zweitem Gesicht werden und über den Charakter, die Persönlichkeit seines Trägers zuverlässig Auskunft geben. Ebenso wie eine unter der Jacke getragene Strickjacke, der breit hervorstehende Kragen eines karierten Flanellhemdes, aufgekrempelte Ärmel, ein breiter Gürtel mit Schnalle oder stattdessen ein einfacher Strick. Alles Zeichen, Merkmale von Individualität, die sich hier in den Fabriken hervorwagten, jedoch unter den jeweiligen Diktaten der Freizeitmode verschwanden, sobald die Arbeiter die Umkleidekabine der Fabrik verließen.
Von hier aus fuhr ich zum Bahnhof, um bei der Auskunft die geplante Strecke meiner Rückreise zu überprüfen. Ging auf den Tunnel einer Straßenunterführung zu, und sah dort eine alte Frau auf den Steinstufen sitzen, die ich hinunterging, einen Krückstock neben sich und eine kleine magere, bläulich-braune und runzlige Hand ausgestreckt, den an ihr vorbeihastenden Beinen entgegen. Ihr in schwarzes Tuch gehüllter Kopf nickte vor sich hin, als zähle sie leise mit, während sie erwartungsvoll zu den ihr Entgegenkommenden aufsah. Und es hastete vorbei. Ein paar junge Kerle lachten, als sie die Bettlerin sahen, die ihre Großmutter niemals hätte sein dürfen, ein Mann schleppte eine große Tasche wie eine Beute vorbei, Frauen in Stiefelchen, Täschchen schwenkend… Und das Stimmengewirr um mich herum war nicht mehr polnisch, es war babylonisch, und ich war auch nicht mehr in Gdañsk, ich war irgendwo oder in der Kurfürstenstraße in Westberlin und sah den Alten mit seinen zwei Krücken neben sich und seiner Tasche und seiner Pelzmütze auf dem Kopf und einem Plastikteller in der Hand im Schneematsch am U-Bahneingang hocken und auf die Beine starren, die an ihm vorüber flimmerten. Alles verlor seinen Sinn. Daß es viertel vor drei war, daß diese Stadt Gdañsk hieß, daß ich Geldscheine aus der Tasche kramte und der Frau in die blaugefrorene Hand drückte – ohne Sinn. Ich war schon halb auf dem Bahnhof, als mich ein Zorn packte und wieder zurücktrieb. Hier ihre Geschichte, die sie mir nach und nach erzählte:
„Ich bin schon siebzig, Rente bekomme ich keine, eine Wohnung habe ich auch nicht. Im Krieg habe ich in Deutschland gearbeitet, und dann war ich immer in Stellung, bei Leuten, hab nie in der Fabrik gearbeitet. Zwei Jahre haben sie mich eingesperrt, weil ich gesagt hab, Gierek ist ein Gauner und ein Lump. Vor einem Jahr ungefähr haben sie mich rausgelassen. Eineinhalb Jahre war ich im Gefängnis und ein halbes Jahr vielleicht in der Irrenanstalt. Fünfzehn Jahre wollten sie mir geben, aber ich hatte einen guten Advokaten. Nicht für Geld, ich hatte ja keins. Ich hab gesagt: ‘Ich bin nicht verrückt, das ist nur die Wahrheit, was ich gesagt habe’. Da haben sie mich rausgelassen.“
An einem Tag bekommt sie hundert Złoty, im Sommer mehr. In Kaufkraft umgerechnet sind das fünf Mark.
„Manche geben zwei Złoty, manche fünfzig Groszy, manche spucken in die Hand.“ Sie weinte. „Manche sagen ‘geh arbeiten’, manche ‘du kriegst doch Rente’.“
Sie ging nicht jeden Tag betteln. „Wenn es zu kalt ist, geh ich ins Kino, zahle ein paar Złoty, hab es schön warm und sehe, was in der Welt ist. Uns interessiert ja auch, was draußen in der Welt passiert.“ Plötzlich fragte sie mich:
„Kommen die Deutschen?“ Und als ich nicht antwortete: „Ich glaube daran.“
„Dort gibt es auch Bettler.“
„Was, auch Bettler? Das glaube ich nicht.“
Ich beschrieb ihr jeden, den ich kannte. Sie war erschüttert, ich hatte ihr einen schönen Traum gestohlen. Doch gleich darauf sagte sie, vernünftig resigniert:
„Es ist eben überall gleich schlecht.“ Von der Miliz wurde sie in Ruhe gelassen.
„Früher haben sie öfter mal die Bettler eingesammelt, Geld abgenommen und sie vor die Stadt gefahren. Jetzt ist es schon besser, die haben jetzt Angst, die Leute wissen nämlich schon mehr bescheid. Bald ist Sommer, da ziehe ich mit anderen in Zelten umher. Ich würde gern in ein Altersheim gehen, aber es gibt keinen Platz. Wir sind mehrere hier ohne Wohnung. Sehen Sie dort, diese Frau dort, die arbeitet in Stellung, für fünfzig Złoty den halben Tag, dazu bekommt sie noch Essen und Kleidung – was die Herrschaften nicht mehr tragen. Sie hat auch keine Wohnung. Nachts sind hier die Hälfte von uns, die keine Bleibe haben.“
Ich küßte ihre kleine, vor Kälte starre Hand zum Abschied.
Der Bahnhof voller Menschen, in der Auskunft bekam ich die genauen Zeiten für meine Strecke bis zur Grenze, danach fuhr ich mit der Straßenbahn in einen Vorort mit niedrigen Häusern, die zum Teil verfielen, stieg aus und ging eine gerade, kaum belebte Straße entlang, auf der mir auf weite Entfernung sichtbar, zwei Bauarbeiter entgegenkamen, Hände in den Taschen, mit ruhigem Gang. Als sie unmittelbar vor mir waren, machte ich ein Foto, mit den Häusern hinter ihnen und weitgespanntem Himmel über uns. Drehte mich noch einmal um und sah ihnen nach, da bemerkte ich eine seltsame Figur, einen Zwerg, der eben noch in meine Richtung Ausschau gehalten hatte, und nun hinter einer Hausecke verschwunden war. Die Augen aus Zinn. Auch ich versteckte mich, wartete eine Minute und trat hervor. Da spähte er doch tatsächlich um die Ecke. Ertappt zog er hastig den Schädel zurück. Was für ein häßlicher Zwerg! Spärliche rötliche Haarsträhnen standen auf seiner Glatze, die stopplige Visage wie eingetreten, Glupschaugen, der Mund ein formloses Loch. Empört lief ich zurück, bog um die Ecke und hätte ihn beinah überrannt. Packte ihn an den Rockaufschlägen, schüttelte ihn und schrie ihn an:
„Du elender Wicht, wenn du mir noch weiter nachschnüffelst, werfe ich dich in den nächsten Kanal!“ Spürte seine Zähigkeit, der war Prügel gewohnt, zog nur den Schädel ein. Als ich ihn losließ, blieb er einfach stehen und glotzte. Klar, für solch eine Situation gab es keine Dienstanweisung. Beugte mich zu ihm, nahm ihn bei den Schultern und sagte, jedes Wort betonend: „Du gehst jetzt nach Hause.“ Drehte ihn um und stieß ihn sachte in die Richtung, aus der wir gekommen waren. Er wandte noch mal den Kopf, ich nickte und winkte ihm, weiterzugehen. Langsam setzte er sich in Bewegung, ich sah die faltige Glatze, den strähnigen Kranz rötlicher Haare über dem Kragen seines zu kurzen ausgebeulten Jacketts, seinen unsicheren Gang, und wartete, bis er endlich verschwunden war. Wo war der bloß hergekommen? Sie mußten am Bahnhof auf mich gewartet haben. Wie konnten sie mir den als Schatten hinterherschicken, unglaublich! Doch bei ruhiger Überlegung war das nicht ganz so unsinnig, wie es mir zuerst schien. Im Gewimmel der Innestadt war der leicht zu übersehen. Übersehen zu werden war schließlich sein Leben, sein Schicksal. Nur hier draußen, in vergleichsweise offenem Gelände war er plötzlich allzu sichtbar geworden.
Fand einen Bus, der ins Zentrum fuhr, traf Woytek im Café über Papiere gebeugt, fuhr mit ihm in seine Wohnung, sagte ihm, daß ich mit dem Nachtzug fahren würde, dankte ihm, verabschiedete mich, nahm meinen Koffer und fuhr zum Bahnhof. Saß zwischen anderen Reisenden im Wartesaal, mir schräg gegenüber eine junge Frau, die unablässig, Zeile um Zeile lächelnd in ein dickes Heft schrieb. Mußte sie immer wieder ansehen, nicht ohne Neid. Schreiben. Schreiben können, ohne immer wieder innezuhalten und nach Worten zu suchen, ohne Zögern und lange Pausen. Aber was schrieb sie da? Einen Brief? Das würde ihr Lächeln erklären. Doch niemand schreibt so lange Briefe. Ein Buch? Aber so schnell, und woher dann das Lächeln? Es wich nicht von ihrem Gesicht, veränderte sich nur ständig. Ein Tagebuch, das Tagebuch einer Liebe? Das konnte ich mir nicht vorstellen, da wäre doch eher Besinnung, Nachdenken nötig, dieses besondere Träumen, mit dem ein Gesicht heraufbeschworen und immer wieder befragt wird. Schräg hinter ihr, in einem angrenzenden Raum, sah ich eine seltsame Gestalt schlafend auf der Bank sitzen, den Kopf in beide Hände gestützt, die Ellenbogen auf die Knie, eine alte Mütze mit hochgebundenen Ohrenklappen auf dem Kopf. Er sah ziemlich abgerissen aus, die Haut frostverbrannt und mit dunklen Schmutzpartien bedeckt. Die im Schlaf trotzig vorgeschobenen Lippen, seine ganze Haltung verliehen ihm etwas Stolzes und Unnahbares. Er hatte nichts Kindliches an sich, doch wenn ich lange genug hinsah, schien unter der abweisenden Schmutzschicht und den frostgebrannten Hautpartien das Gesicht eines Kindes hervor, das sich in eine unabwendbare Einsamkeit gefügt hatte.
Ich hörte genau auf die scheppernden Ansagen, wann und von welchem Bahnsteig die Züge fuhren, nahm erst in letzter Minute meinen Koffer fest in die Hand und ging ohne zu zögern und ohne mich noch einmal umzusehen zum bezeichneten Bahnsteig, stieg in den ersten Waggon, jetzt erst einen kurzen Blick hinter mich werfend, suchte ein freies Abteil mit Sitzplätzen zum Perron, löschte das Licht, zog die Gardine vor das Fenster und spähte durch einen Spalt hinaus. Niemand Verdächtiges war zu sehen, auch nicht, als der Zug im nächsten Moment anfuhr. Vorsichtshalber, um Nachfragenden kein Ziel anzugeben, hatte ich keine Fahrkarte gekauft, ich würde sie im Zug nachlösen. Im Gang tat sich auch nichts, ich schloß die Tür, auch hier die Gardine vorziehend und streckte mich auf der Bank aus, mich alsbald wieder aufsetzend. Draußen flogen immer schneller gelbe Lichter vorbei.
Solidarność - die wichtigsten Daten
auf MDR
Zeitreise
Adam Zagajewski auf lyrikline
und auf Wikipedia.
Adam Zagajewski hat aus dem Werk des 1980 mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichneten Autors rund hundert Gedichte ausgewählt und in seinem Nachwort dessen Biografie nachgezeichnet.
Czesław Miłosz auf planetlyrik
Mit einem Nachwort von Aleksander Fiut und einem Interview von Fritz J. Raddatz
WIE VIELE HERRLICHE VORSÄTZE
Wie viele herrliche Vorsätze, Spiele und Listen gab es,
Als uns, meine Freunde,
Die Wolken, die waldesrühmlichen Statuen
Und über der schmalen Straße die Johannisadler-Engel beschützten.
Ihr solltet verlieren und wußtet es nicht.
Ihr solltet verlieren und ich habe es gewußt,
Ohne die Mitwisserschaft, die vergebliche, euch oder mir zu bekennen.
Nun ist es vollbracht. Der Wind spielt mit Schatten von Namen,
Bis die Schneestille folgt auf die Dynastie.
Wer Verstand besaß, wählte Doktrinen,
In denen der teuflische Moder, flimmernd, geleuchtet hatte.
Wer Herz besaß, ließ sich zur Nächstenliebe verführen.
Wer Schönheit wollte, diente dem Stein auf dem Stein.
So zahlte unser Jahrhundert heim
Denen, die seiner Verzweiflung und seiner Hoffnung vertrauten.
Und was hat Gewinn bedeutet? Mitten im Wort zu verstummen,
Den Schrei zu vernehmen, der Lüge zu huldigen, weil die Wahrheit gefallen war,
Kumpanei zu heucheln, an Gräbern vorbei,
Und sich zu den Auserwählten zählend,
Mit ganzem Körper die Scham
Zu empfinden.
Am Tag des Weltendes
Summt um die Kapuzinerkresse eine Biene,
Flickt der Fischer das glitzernde Netz,
Springen im Meer die lustigen Delphine,
Junge Sperlinge krallen sich an der Rinne fest,
Und die Haut der Schlange ist golden, wie sich das gehört.
[…]
Nur der grauhaarige Greis, der ein Prophet sein könnte,
Doch er ist keiner, denn er hat anderes zu tun,
Sagt beim Anbinden der Tomaten:
Es gibt kein anderes Ende,
Es gibt kein anderes Ende
Ein sehr lesenswerter Essay aus dem Jahr 2005 von Adam Michnik auf Perlentaucher.
Kommentar schreiben