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Im Schwarzen Koffer

Reise zum Beginn einer Zeitenwende

O Welt, wirklich, deine Wege sind unbeschreiblich,

mit Gefängnissen und feuchten Städten und Eisenbahnen.

 

Das weiß, der dich befuhr, so wie ich:

Mit einem Auge aus Glas,

um das andere streiten sich noch

ein Kind und ein Prophet. 

Heberto Padilla

 

Die nächtlich dunkle Straße entlang, durch baumlose Land­schaft. Den Schal fester gezogen, den Atem hinterm hochge­stell­ten Kragen gewärmt, den Griff des schwarzen Kunstleder­kof­fers fester gepackt. Die Schöße des Wollmantels schlugen gegen die Wa­­den, es war bald dreiundzwanzig Uhr, ich beeilte mich, zur Gren­ze zu kommen; wäre sie geschlossen, müsste ich die ganze Nacht in der Kälte warten. Aber wo war die Grenze? Ich lief in die mir bezeichnete Richtung, doch vor mir, so weit ich sehen konn­te, war alles dunkel. Kein Lichtschimmer, nichts. Der einzige Schlagbaum, den ich vor mir auftauchen sah, gehörte zu einer Schranke, die Straße führte in einer Linkskurve über Gleise, und ich hatte doch vor einer halben, oder einer viertel Stunde erst den Bahnhof verlassen. Wieso waren hier schon wieder Gleise, war ich im Kreis gegangen, in einer Schlaufe gefangen? 

Hinter der Bahnschranke kam mir ein Mann entgegen, gebeugt, eine Schiebermütze auf dem Kopf. Aus welcher Versunkenheit ich ihn wohl geweckt hatte.

„Nach Polen? Ja, immer weiter die Straße entlang, vielleicht noch einen Kilometer, dann kommt die Grenze.“ Und als erwache er erst jetzt vollends, nachdem ich ihm gedankt und mich zum Weitergehen gewandt hatte, drehte er sich noch einmal um und sagte weich: „Grüß Polen.“

„Klar, mach ich. Gute Nacht!“

„Gute Nacht, alles Gute.“ Er winkte.

Und dann war sie da, die Grenzbaracke, mit matten Lichtern hinter weiß bemalten Scheiben. Knarrend öffnete sich die Tür, warmer Dunst hüllte mich ein, mehrmals musste ich mir die beschlagenen Brillengläser abwi­schen. Träge stürzten die tschechischen Zöll­­ner sich auf mich, eine kleine Frau allen voran.

„Was wollen Sie?“

„Nach Polen.“

„Nach Polen? Haben Sie Auto?“

„Nein.“

„Wie sind Sie gekommen?“

„Zu Fuß.“

„Zu Fuß?“

„Ja. Zuerst mit dem Zug.“

Papiere. Pass, Visa, tschechisches Transitvisum, Zollerklärung aus­­füllen. Wie viel Geld, welche Fotoapparate führen Sie ein? Den Kof­­fer, die Tasche auf den Tisch. Bitte öffnen.

„Was wollen Sie in Polen?“

„Tourist.“

Sie wechselten Blicke.

„Das sind zwei Fotoapparate? Wie viele Filme haben Sie mit?“

Endlich ließen sie von mir ab, ein Auto hatte gehalten, mehrere Männer in Lederjacken kamen durch die knarrende Tür, die waren jetzt wichtiger.

Die polnischen Zöllner, die sich alles vom Hintergrund aus an­ge­sehen hatten, winkten mich durch: schnell, schnell! Kein Schnaps? Keine Zeit für Unsinn.

Der nächste Ort: eine Kleinstadt, ich war in Polen. Es hatte zu schnei­­en begonnen, dicke weiße Flocken wirbelten im Lichtschein der Straßenlaternen. Ein Häu­serkarree, der zentrale Platz, hinter einer Tür Licht, ein Hotel. Hinterm Tresen eine dun­kelhaarige Frau, eine zweite fegte den Boden. Die Frau hinterm Tresen schüttelte den Kopf. Kein Zimmer frei. Ein Sessel, eine Ecke? Sie schüttelte den Kopf. Mit vor Kälte steifen Fingern suchte ich nach der Adresse, die Adam Zaga­jewski mir gegeben hatte, reichte sie über den Tresen. Die Frauen steckten die Köpfe zusammen, flüsterten. Dann ging die Rei­ne­mach­frau zur Tür, öffnete sie und zeigte mit dem Kopf nach draußen:

„Ge­­hen Sie.“ Ein Raus­wurf. Ich steckte die Adresse wieder ein und ging zur Tür hinaus, wollte sie schließen. Doch da stand die Reinemachefrau hinter mir:

„Gehen Sie, gehen Sie!“, und schritt mit ver­schränkten Armen an mir vorbei und voran durch den Schnee. Verwirrt folgte ich ihr. Ein ande­res Hotel? Wir gingen lange. Nie würde ich den Weg zurück finden. Plötz­lich blieb sie vor einem Tor ste­hen, nickte: hier ist es. Und war verschwunden, bevor ich begriff und ihr richtig danken konnte. Ich schritt durch den Torbogen, die Tür zum Nebengebäude war nicht abgeschlossen, ich fand den Namen auf dem Brief­kasten, stieg die hölzerne Treppe hinauf, fand die rich­tige Woh­nungs­tür, klingelte. Niemand zu Hause. Setzte mich auf die Treppe, was sonst hätte ich tun sollen?

Irgendwann ging das Treppenhauslicht an, kam jemand mit unsi­­che­ren Schritten her­auf, noch einen Absatz, sah mich auf der Treppe vor der Tür sitzen.

„Wollen Sie zu mir?“

„Ja. Ich habe Ihre Adresse von Adam Zagajewski.“ Namen können Türen und Herzen öffnen.

„Kommen Sie herein.“

Er brauchte eine Weile, um die Tür zu öffnen, lachte.

„Entschuldigen Sie, ich komme von Freunden, wir haben ge­feiert.“

Eine kleine Wohnung, ein Zimmer, eine winzige unaufge­räumte Küche, die Toilette. Über­all Bücher, an den Wänden, auf Tischen. Ir­­­gendwo fand er noch eine halbvolle Fla­sche Wod­ka, schob Bücher und Papiere beiseite, und wir stießen mit Senfgläsern an.

 „Ich weiß nicht, ob ich dich beneiden soll, ich bin schon lange nicht mehr gereist. Gdañsk. Ich liebe Gdañsk. Es gibt da ein Hotel, von dem aus man auf die Werft und den Rangier­bahnhof sehen kann. Früh morgens, wenn die ersten zur Arbeit gingen, bin ich auf­ge­stan­den und hab aus dem Fenster gesehen. Was mir da alles durch den Kopf ging. Manches hab ich aufgeschrieben, das meiste ist wie­der im wortlosen Nebel verschwunden.

 

Weißt du, wir sind hier an der Grenze. Das ist was Be­son­­deres, und das wird leicht vergessen, sogar verachtet, weil man Grenzen schnell hinter sich lassen möch­te und weiter­kommen ins Zentrum.

 

Du wirst weit herum­kom­men, die Zen­tren sehen. Kraków, das kulturelle Zen­trum, die Kirche ist dort beson­­ders stark. Wrocław, das Zen­trum der Industrie, der Berg­ar­bei­ter. Düster, voller verbor­ge­ner Kraft. Warschau, das politische Zen­trum. Vielleicht auch einmal das Zentrum der po­li­­tischen Oppo­siti­on. Noch ist sie wie übers ganze Land verstreut, was ich eher für einen Vorteil halte, denn es sorgt für Überraschungen. Und Gdañsk, das Zentrum der Gewerk­schafts­­­be­wegung. Sieh dir alles ge­­nau an. Aber vergissß nicht: Was da ge­dacht und gesagt wird, was dort geschieht, ist nicht das Ganze, auch wenn sie das dort gerne glauben. Die Zentren sind auch Zentren der Blendung, und nichts blendet so sehr, wie der Glaube an die ei­ge­ne Be­deutung. Sieh dir immer wieder die Grenzen an, sieh von den Grenzen her, und du wirst eher verstehen, was das Ganze ist und wohin es sich bewegt. Wo immer du bist, suche den Rand, su­che die Grenze.“

Ich wurde freundlich gedrängt, in seinem Bett zu schlafen, er wickelte sich in eine Decke und schlief im Sessel am Ofen. Am Morgen, nach einem kleinen Frühstrück mit polni­schem Kaffe, in dem der Löffel im zwei Finger hohen Kaffeesatz stehen konnte, brachte er mich zum Busbahnhof. Um neun Uhr sollte der Bus nach Kraków fahren. Die Schalter wa­ren leer, im Raum dahinter saß eine Ver­­­käuferin und unterhielt sich lange mit einem Bus­fahrer, ohne uns zu beach­ten. Ich wurde ungeduldig, räus­perte mich, klopfte an die Scheibe.

„Langsam, langsam. Du bist doch hier, um ‘Solidarność’ ken­nen­­zu­ler­nen“, sagte mein Begleiter lächelnd. „Hier ist sie, deine erste Be­­geg­nung mit ihr. Sie machen eine Be­spre­­chung, sieh hin.“

Auf dem Tresen stand ein kleiner Wimpel mit dem berühmten Zeichen. Andere Fahr­gäste, die etwas abseits gewartet hatten, lä­chel­ten verständ­nisvoll. 

„Sie machen rechtzeitig wieder auf. Und selbst, wenn die Be­spre­­­chung länger dauerte,  würde der Bus nicht ohne dich ab­fah­ren.“

Wir verabschiedeten uns herzlich. Ich schlenderte zwischen den Bus­sen einher, sah plötz­­­lich ein helles Augenpaar auf mich gerichtet. Eine junge Frau mit roten Wangen sah mir aus einem abfah­renden Bus nach und winkte. Wohin fuhr dieser Bus? Ich wür­de es nie erfah­ren. Wohl zu einem Dorf in den Bergen, wo der Wind wohnt und jene Frau.

Da stand er dann, der Bus nach Kraków, mit laufendem und qual­­men­dem Motor. Ich stemm­te meinen Koffer hinein und setzte mich an einen Fensterplatz. Warum nur wollte ich jetzt nach Kraków fahren, wieso nicht irgendwoanders hin, auf eine ganz andere Rei­se, in die Berge, zu Wäldern und Wiesen, wo solche apfelbäckigen Mädchen wuchsen? Schon jaulte der Motor auf und der Bus rumpelte die Straßen entlang.

 

Stra­ßenbäume brausten in regelmäßigen Abständen vorüber, hinter ihnen schimmerten Schneeflecken auf den Fel­dern, die Sonne flickerte schräg durchs Geäst und blen­de­te mich, daß mir die Augen schwer wie von nassem Sand wurden. Schlafen moch­te ich, wie andere hier im Bus, die wie Bauern aussahen und irgend­welche gro­ßen Bündel in ihrer Nähe zu liegen hatten. Zerfurchte Gesichter, Mützen über die Augen gerutscht. Mir ging zu viel durch den Sinn. Ich hatte eine Grenze hinter mir gelassen, nein zwei, und trotz der unver­gessenen Worte meines nächtlichen Gastge­bers erfaßte mich ein un­beschreib­­liches Hoch­gefühl. Was ist Freiheit denn wirklich? Ich wußte es nicht. Doch in solchen Momen­ten ahn­te ich zumindest… Etwas ist von dir abgefallen, eine große Last, eine Beschwerde, unsin­ni­ge Beschwer- und Bitternisse, und du fühlst dich plötzlich leicht. Eben noch, kurz bevor der Bus losgefahren war, hatte ich mir eine ganz andere Art von Reise vorgestellt, und jetzt war es genau diese und keine andere, auf der ich sein wollte.

In Kraków angekommen, fuhr ich mit der Straßenbahn zum Bahn­­hof, stellte meinen schwar­­zen Koffer in ein Schließfach und sah mich um. Von hier aus würde ich morgen, übermorgen, oder in drei Tagen, das wußte ich noch nicht, weiterfahren. Ich liebe Bahn­­­höfe, sie sind Kathedralen des gewöhn­lichen Lebens, das wir nur deshalb ge­wöhn­­lich nen­nen, weil es uns zuweilen schwer wird. Im Bahnhofsrestaurant standen zwei Männer an einem leeren Tisch und diskutierten miteinander, wobei sie ihre gro­ßen, schwe­ren Hän­­­de gemessen bewegten. Hinter ihnen am Tresen standen Kunden Schlan­ge, es gab Brötchen und Tee ohne Zucker, denn Zucker war seltsamerweise Mangel­wa­re geworden, wie manch an­de­res auch. Bier gab es aber, es war hell und dünn. Ein alter Mann in einen russischen Soldaten­mantel aus grobem Tuch gehüllt, so lang, daß er stän­dig Gefahr lief, auf den Saum zu treten, mit weißem Zickenbärtchen und schlau fun­keln­den Äuglein hinter einer Nickel­brille, die er auf der Nasenspitze trug, ging auf den Bahn­steigen langsam zwischen den War­ten­den herum, von denen mancher einen Seidel mit frischem Bier neben sich zu ste­hen hatte, um plötz­lich mit meister­licher Treffsicherheit in einen dieser Seidel zu spucken. Die Besit­zer sahen überrascht den weißen Fleck in ihrem Glas und em­pört auf, scho­ben jedoch, wenn sie auf jene Gestalt und in diese Augen gese­hen hat­ten, das Bierglas ange­widert von sich, worauf es von diesem welt- aber nicht Bier ver­ach­tenden Trotzki in einem Zug geleert wurde.

Im Zentrum ging ich durch die Tuchhallen, breiten Arkaden durch Rundbögen verbunden, unter de­nen Souvenirs, Volkskunst, Hand­gewebtes und -geschnitztes verkauft wurde. Ein älterer Herr zeigte mit un­miß­verständlicher Geste: halt dir die Taschen zu. Aus einer der dun­k­­le­ren Ecken erklang Musik, fremd­artig-vertraut, die mich un­wi­der­steh­lich anzog. Auf dem Tresen eines geschlos­senen Standes saß ein älterer Zigeuner mit ein­ge­sunkenen Schul­­­­tern und ei­nem Ge­sicht, das so traurig war, daß sein Anblick weh tat. Er spielte Ro­man­­­­zen auf seiner Geige, die unter dem Kinn auf seiner Brust lag, ein junger Gi­tar­rist und ein zweiter Geiger, der auf einem dünnbeinigen Stuhl vor ihnen saß und sein Instrument wie ein winziges Cello auf den Ober­schenkel stützte, den Hals an sein Ohr ge­­schmiegt, begleiteten ihn. Sie brauchten nicht viel, nur einen ein­zi­gen Zu­­hörer, und sie kamen in Schwung. Plötzlich tauchte noch einer auf, lächelte ver­schämt wie ein Schuljunge, der zu spät ge­kommen war, packte seinen Kon­tra­baß beim Hals und fiel ein. Die Mu­­sik und ein Feuer, das wer weiß woher ge­kommen und nun in ihnen war, loderten hell auf und sie spielten und spielten. Un­ver­ständ­lich, daß von den Vorü­ber­gehenden sich nie­mand von dem Feuer an­stec­ken ließ, nur eine ältere Dame bückte sich und warf mit flüchtigem Lächeln eine Münze in die Schachtel. Aufs Geratewohl lief ich durch die Straßen und konnte mich nicht sattsehen an den Gesichtern vol­ler Falten und Runzeln, deren Zei­chen­sprache ich zu verstehen glaubte. Reihen von Prü­fun­gen, Nie­der­lagen, Scheitern, und doch immer wieder ausspähen nach etwas, oder nach jeman­den. Abwesenheit, das sagten nicht die Falten in den Ge­sichtern, sondern die Blicke, ängstlich bemüht, sich nie zu be­geg­nen, wie Schiffe auf hoher See. Das Le­ben spielte sich andern­orts ab; Straßen entlangzugehen, sie zu überqueren war irgend­wie notwendig, aber im Wesentlichen unerfreulich.

 

Weil man täglich essen muß, muß­­­te eingekauft wer­den, eine Arbeit, die den Alten oblag, denn sie nahm viele Stun­den des Tages in An­spruch.

 

Aus ver­schie­denen Richtungen gekom­men, tra­fen sich ein alter Mann mit Pelz­müt­ze, deren Ohrenklappen herunter schlabberten und eine alte Frau in bäu­er­licher Kleidung vor dem leeren Schau­fenster eines Lebens­mit­tel­ladens, standen kurz einträchtig neben­ein­ander, legten jeweils die Hand beschat­tend an die Scheibe, blickten hindurch, sa­hen – nichts… und gingen in verschiedene Richtungen aus­­einander, ohne einander Beachtung zu schenken. Auf einem großen Platz in der Innenstadt hatte sich eine Schlange gebil­det, die sich mehrfach bog und in eine Neben­straße mäan­der­te. Hinten in der Schlan­ge wußte niemand, was es zu kau­fen gab, man wür­de es schon noch rechtzeitig erfah­ren, wenn es dann überhaupt noch etwas gab. Eine La­dung Zucker war es, für die hier ange­stan­den wurde, je zwei Tüten gingen wie am Fließ­band über den Tresen. Wer sie einge­steckt hatte, verließ eiligst den Laden, um, kurz ge­blen­det von so viel Glück mit den Au­­­gen zwinkernd, sogleich nach der nächsten Schlan­ge Ausschau zu halten. In einem gekachelten Flei­scher­laden stan­den vor allem Frauen, dicht an dicht. Vorsorg­lich, denn es gab nichts. Die Fleischerhaken an den Wän­den waren ver­waist, die Aus­lagen leer, die Ver­käuferinnen beugten sich neben der Waage über eine Zei­tung und lösten Kreuzworträt­sel. Da waren auch andere Schaufenster, vor denen sich Menschen sam­mel­ten. An ihnen kleb­ten Auf­rufe, Mittei­lungen, Informationen der Ge­werk­schaft und mit ihr sym­pa­thisierender Stu­den­ten­gruppen. Der Hunger nach Infor­mati­on war ebenso groß wie der leib­liche. Die Zentrale der Gewerk­schaft war ein kleines Haus, das an eine Arzt­praxis, ein klei­nes Landambu­la­to­­rium denken ließ. In einem der Räu­me drängten sich Menschen, stan­den auch hier Schlan­ge, dies­mal nach Unverkäuf­li­chem, nach Infor­­ma­ti­o­nen. Die Lebens­mit­tel­knapp­heit sei künst­lich erzeugt, erfuhr ich hier, eine der Maß­nah­men der Re­gie­rung, um die Men­schen von der Unzweck­mäßig­keit eigenen Denkens und Han­delns zu über­zeugen. Ganze Güterzüge voller Lebens­mittel waren auf irgend­wel­­chen Abstell­glei­sen nur des­halb entdeckt worden, weil sich um sie bestia­lischer Ge­stank ver­breitet hatte, die Lebens­mit­tel wa­ren bereits ver­dor­ben. Und das in einem Agrar­­land, das auch in den schlimm­­­sten Zeiten der "Kommune" nie Knappheit an Lebensmitteln gekannt hat­te, weil die kleinen Bau­ern sehr bald in Ruhe gelassen wor­den waren. Jetzt hatten sie eine „Land-Soli­darität“ ge­grün­det, wollten ei­ge­ne Handels­netze aufbauen. Sie wür­den für alle Probleme Lö­sun­­gen fin­den, wenn ihnen nur genug Zeit bliebe, sagte eine reso­lute Gewerk­schafts­­füh­re­rin. Aus einem der hinteren Räume drang geheim­nis­volles Klap­­­pern und Surren. Ich klopfte, doch niemand antwortete, ich öffnete vorsichtig die Tür, ohne daß jemand reagierte, und stand in einer Druckerei. Junge, lang­haarige, schwarz­­­bär­tige Männer mach­ten sich an einer kleinen hand­be­trie­be­nen Maschine zu schaffen, die offen­sichtlich eben einer Repa­ra­tur bedurfte, ein älterer Kollege hatte tropfende Schläuche und andere Maschinen­teile in den schwar­zen Händen. An einer anderen Maschine arbeitete jemand, der kurz aufsah und mir zunickte. Die Wände waren mit Pla­katen, Flugblättern und Fotos übersät; auf einem schmalen, hohen Plakat stand Lenin mit seiner berühm­ten Müt­ze, das Kinn vorgereckt und Hän­den in den Taschen. Die Drucker hatten ihm ein Solidarnosc- Abzei­chen ans Revers gesteckt, eine polni­sche Un­ter­grund-Zeitung namens „Ro­bot­nik“ un­ter den Arm geschoben und eine Spruch­blase vor den Mund ge­­malt mit unverständ­lichen, halb chinesisch, halb tech­nisch anmu­tenden Zeichen.

 

Nach Nowa Huta, einer jener riesigen Arbeitervorstädte voller neun­­ststök­ki­­­ger Beton­kästen fuhr ich mit einem der qualmenden und dröhnenden Stadtauto­bus­se. Ich be­such­­te dort die Schrift­stellerin H., die zweite Adresse auf meiner Liste. Wir saßen in ihrer Kü­­­­che mit glatten, weißen Anbaumöbeln auf schlichten Hockern an einem mit wei­ßem Plastik beklebten Tisch. Ihr Mann hatte sich kurz nach der Begrü­ßung zurück­ge­zo­gen. Sie war Ende dreißig, eine schöne Frau, nur wurde ihre rechte Gesichts­hälfte von einer langen, tiefen Narbe entstellt. Unvermittelt beugte sie sich vor, sah mir fest in die Augen und fragte fast herausfordernd:

„Und wer bist du?“ Das war so unge­wöhnlich wie diese Frau.

„Wer?“, fragte ich überrascht und ein wenig töricht zurück, als hätte ich nicht ver­stan­den. Keine leicht zu beantwortende Frage, wie ich fand, hatte ich doch lieber mit an­de­­ren als mit mir zu tun. Da die anderen aber zwangsläu­fig mit mir zu tun hatten, hatten sie auch das Recht, mich zu fragen. Statt gewundene Erklärungen ab­zu­geben, erzählte ich kurz meine Geschichte, und sie hörte sehr auf­merk­sam zu. Es wurde Abend, von Zeit zu Zeit wan­der­te mein Blick zum Fenster, um sogleich, an der gegen­überliegen­den gleich­för­mi­gen Fas­sade mit fast quadratischen Fensterlöchern abge­prallt, zurückzu­keh­ren. Sie wirkte über­­haupt nicht unglücklich, aber ich konnte nicht anders, als sie zu fragen, wie man hier denn leben könne. Sie nickte, schüt­telte den Kopf, lachte, stand auf und öffnete das Fenster.

„Sieh mal, dort drüben, wo gerade das Licht anging, da kocht meine Freundin Krystyna jetzt das Abendessen für ihre Familie, dort wohnt Zbyzek, ein Junge, der uns sehr hilft, er ver­teilt Flug­blätter und Broschüren, dort wohnt Zofia, eine gute Freundin, sie ist hier die Kran­­ken­­­schwe­ster.“ Sie zeigte und zeigte.

 

„Wären das alles hier klei­­­ne Häuser, hätte ich weit zu gehen, wenn ich sie besuchen wollte. Den ganzen Tag wär ich unterwegs, und die mei­sten würde ich überhaupt nicht kennen, weil wir uns nie begegnet wären.

 

Ich glau­be ebenso wenig wie du an die salbungsvollen Reden der Prie­ster und die Dog­men der Kirche, auch wenn sie interessanter sind, als die Dogmen der Partei. Aber geh mal, wenn du morgen Zeit hast, in die Kirche von Nova Huta. Sie ist nicht schön, des­halb paßt sie hierher. Und sie ist der Stolz der Menschen hier, weil sie allein mit ihrem Geld gebaut wurde. Geh ein­mal zur Messe, wenn du morgen, am Sonntag Zeit hast, du wirst staunen. Warst du schon in der Ausstellung über die Streiks und Auf­stände der sech­zi­­ger und siebziger Jahre, die zur Gründung der Gewerkschaft führ­­ten? Es ist die erste Ausstellung dieser Art in Polen mit groß­for­matigen Foto­gra­phien, die zuvor nicht viele gesehen haben, eine Sensation.“ Und leise, wobei sie das Gesicht zum Fenster wandte, sagte sie: „Niemand kann sagen, wie lange die Gewerkschaft noch exi­stiert. Je länger, desto besser, weil wir wieder auf eigenen Bei­nen zu gehen lernen. Selbst­ver­ständ-lich, sie wol­len sie zerschla­gen, doch vielleicht zerstören wir sie auch selber in Rich­tungs­kämp­fen und per­sön­lichen Ambitionen, darin ha­ben wir großes Talent. Doch solche Aus­stel­lun­gen, all diese Arbeit, die jetzt getan wird, um die Erin­nerung an unse­re Kämp­fe, unse­re Leiden, unsere For­de­rungen in der Zeit, an andere Menschen wei­ter­zu­ge­ben, das wird blei­ben.“ Bevor wir uns verab­schie­deten, fragte ich, ob ich sie fotogra­fie­ren könne und mach­te auch ein Foto von der rechten Seite ihres Gesichts, die sie mir etwas über­rascht, doch bereit­­willig zu­wandte. Die Narbe stam­me von einem Unfall vor vie­len Jah­ren, nicht so wichtig, ant­wor­te­te sie auf meine Frage. An der Tür schüt­­­­telten wir uns lange die Hän­de, dann spuck­te sie mir dreimal über die Schulter. „Paß auf dich auf!“ und steckte mir gleich­zeitig ei­nen Zettel zu. „Wenn du in Gdañsk bist, geh mal bei Jerzy Bulak vorbei und grüß ihn von mir, das ist die Adres­se, wo du ihn treffen kannst. Und frag auch nach Anna Walentinowicz; was mit ihr passiert ist, ver­­steht hier niemand.“

 

Zurück in Kraków, ging ich in ein kleines Hotel und wollte vor dem Schlafengehen etwas essen. Das Restaurant war bis auf den letzten Platz leer. Essen gab es noch, doch, na ja – nur nicht, was auf der Karte stand, entschuldigte sich der Kell­ner, brach­te schließ­­­­­lich ei­nen Teller mit Kartoffeln, ein wenig Gemüse und etwas Un­de­finier­ba­rem, das wohl Fleisch sein soll­te. Geduldig hör­­te ich mir alle seine Entschuldigungen an, nahm sie lächelnd und mit beschwich­­­tigenden Gesten entgegen. Zu keinem Zeit­punkt wüßte ich zu sa­gen, wie es schmeckte, doch erinnerns­würdig war dieses Essen.

Am nächsten Morgen bezahlte ich die Rechnung in lächerlicher Höhe und fuhr wieder nach Nowa Huta. Passanten mußte ich nicht fragen, um die Kirche zu finden, ich brauchte ihnen nur zu folgen, dann sah ich sie schon zwischen den kahlen Wänden der Hochhäuser. Es war ein auffälliger Betonbau mit schräg nach oben ragendem Turm, in­nen allerdings weit und hell. Ein riesiger dürrer Jesus hing an Eisenrohren schräg hin­ter der Kanzel von der Wand, dessen Kreuzigung wie ein Sturz wirkte, den er mit den schräg abge­win­kel­­ten und leicht nach hinten gestellten Armen nicht abfan­­gen wür­de. Ein Sturz und ein Aufbäumen. Dies war die Kirche der Stahl­arbeiter. „Nowa Huta“: neue Hütte. Ich sah den Prie­ster, kennt­l­­ich durch eine bestickte Schärpe, die er um den Hals trug, um­­­ringt von Men­schen, die mit ihm sprachen. Es war eine Atmosphäre wie nach einem Konzert, wenn man noch nicht gleich nach Hau­se gehen will, sondern sei­ne Eindrücke mit ande­ren teilen. Ein Got­tesdienst war eben zu Ende gegangen. Doch bald schon füll­­te sich die Kirche wieder, füllte sich bis auf den letz­ten Platz. Ich eilte auf die Gale­rie, um besser sehen zu können und sah mich sogleich ein­ge­keilt zwi­schen rauhen Winter­mänteln. Ein Singen hob an, sprang mich an wie ein plötz­licher Wind. Sicher hörte ich die Stimmen der Menschen in mei­ner Umge­bung deut­lich, es war aber zugleich ein Brausen von allen Seiten. Eine triste, ergrei­fende Melo­die, die sich erhob, an­schwoll, sich in langanhaltenden Tönen wei­ter­schwang und ebenso abrupt verklang, wie sie begonnen hatte. Plötz­lich konnte ich un­ten den Prie­ster vor dem Meß­­­tisch se­hen, der mit der Predigt begonnen hatte, denn alle um mich he­rum waren nie­der­ge­­kniet, bekreu­zig­ten sich, erhoben sich wieder, um der don­nern­den Stimme des Prie­­sters zu lauschen, die sie zuweilen mit bei­fälligem Brummen oder Stöh­­nen kom­men­­­tier­­­ten.

 

Nie zuvor hatte ich eine solch gro­ße Menschenmenge in einer Kir­­che gese­hen. In diesem wei­ten, hellen Kirchenschiff teilten die Menschen etwas mit­­ein­an­der, wur­­den von gemein­sa­mer Sorge und Hoffnung beseelt.

 

Das war so völlig anders, eine andere Kirche, andere Gläubige, ein anderer Gottesdienst, als ich sie vor acht Jah­ren bei mei­nem er­sten Besuch in der Kathedrale gegenüber den Tuch­hallen erlebt hat­te. Die strah­lte eine düstere Farbig­keit aus, weit vorn glänz­­­te golden der Altar, die Sei­ten­schif­fe wa­ren von Säule zu Säule durch Gitter abgeteilt, in diesen Nischen stan­den jeweils ande­­re Heili­gen­figu­ren, vor de­nen Kerzen brannten und Men­schen knie­ten, die ge­senk­ten Haup­tes be­te­ten. Gemurmel durch­webte die Kirche; die Viel­­falt der Heiligen und ih­rer Vereh­rung, das sich steil erhebende Kirchenschiff, das Patina und der Geruch von Jahrhunderten beein­­druckten, aber zogen mich nicht an.

 

In einer von Krakóws ruhigen Seitenstraßen stand ein Back­steingebäude mit Türm­chen, geschmie­de­tem Eisenzaun und ver­ziertem Tor, hing voller Trans­parente, überall wa­­ren junge Leu­­te. Es gehörte zur Universität, wie ich erfuhr, und die Studenten streik­ten. Sie  kon­trol­lier­ten den Ein­laß, sie wollten Pro­vo­­ka­tionen ver­hin­­dern, doch nach ei­ni­gen Fragen, die ich of­fen­­sichtlich zufriedenstellend beant­wortete, durfte ich hin­ein­­ge­­­hen. Eine Wen­del­­treppe vier Stockwerke durch großes Gedränge hinauf, und auch in den Gän­gen über­all Studenten. Manche disku­tierten eifrig, andere saßen still her­um, eine jun­ge Frau, fast noch ein Mädchen mit zwei kur­zen Zöpfen, einer weiß-roten Armbinde und dem Abzeichen der Studen­ten­organi­sa­ti­on NZS auf dem Rollkragen ihres Wollpul­lo­­vers, las mit Schreib­maschine abge­tippte Gedichte vom Um­fang eines klei­nen Büch­leins, und ich verliebte mich in ihr konzen­trier­­tes Ge­sicht, das immer, wenn sie ein Ge­dicht zu En­de gelesen hatte, nach Pausen, die mir lang wur­den, mit strahlenden  Au­gen ein Lä­cheln in die Run­de schickte, ein Lächeln wie ein leuchtender Morgen am Meer. Ich fragte sie nach dem Namen des Autors, den sie mir bereitwillig in mein Notizbuch schrieb. Selbstverständlich kannte ich ihn nicht, und das Notizbuch sank seltsamerwei­­se zusammen mit meinem Rucksack in Bangladesh auf den Grund des Jamuna, eines der größten Strö­me Asiens.
Die Foto­aus­stellung über die Aufstände der Vor- Solidarnosc- Zeit hat­ten hier alle gesehen, und sie bezeich­ne­ten mir den Weg dorthin. Sie war in der Tat se­hen­s­­wert. Die großen Räume schie­nen eben groß ge­nug für die riesigen, wohl zwei Me­­ter hohen Fotos, die gut ausge­leuch­­tet eins am an­de­rn die Säle füllten. Die Bild­un­ter­schriften waren am Fuß der Fotos ange­bracht, so tief und ver­hält­nismäßig klein, daß der Ver­such, sie zu lesen zu einer unwill­kür­lichen Ver­nei­gung wurde. Ein Foto zeigte, offen­­­sicht­lich aus einem Fenster im er­sten Stockwerk durch die kahlen Zwei­ge eines Baumes aufgenommen, Arbeiter, die mit weit­ aus­ho­lenden Schritten eine Tür auf ihren Schultern die Straße entlang­ tru­gen – auf der die blut­über­strömte Leiche eines ihrer Kameraden lag. Die ganz eigen­tümliche Span­­­nung, die von diesem Foto ausging, lag in dem schrof­fen Gegen­satz zwi­schen dem drama­ti­schen Geschehen auf der Straße und der privaten, halb verborgenen Pers­pek­tive, aus der es aufgenom­men wor­den war. Nicht nur die Zwei­­ge wirk­­ten als eine Art Gardine, ich glaubte sie auch neben der Bildbe­gren­zung wehen zu sehen, zwei­fel­los waren da in der Nähe auch eine Vitri­ne, ein Tisch, Stühle. Und doch war diese Gar­dine weg­gezogen worden, un­wi­der­­ruf­lich.

 

Weiter blieb eigent­­lich nichts, als selbst auf die Straße zu gehen.

 

Aber heute war kein Aufstand. Von innen schwach erleuchtete vorüberwankende Straßen­bahn­wagen, vollgestopft mit Men­schen, die sich an Stangen und Grif­fen festklammerten. Autobusse, hinter deren be­schla­ge­nen Schei­ben schemenhaft Gestalten vorbeischwebten. Ein Gesicht, das flehent­lich ins dunkle Draußen starrte. In den Gas­sen, die ich vorgeneigte Körper der Vorüberge­hen­­­­den, die dem kalten Wind und dem einsetzen­den Schneegestöber entgegen­ streb­ten. Dampf quoll aus der eben geöff­neten Tür einer Bäckerei; jemand, der hin­aus­trat, brachte den Geruch von fri­schem Brot mit. Ein vielleicht vierjähriges Mädchen zog die zö­gernde Groß­mutter an der Hand hinter sich her in einen Milch­laden. Die schlich­te Geste einer alten Frau, die in ihren Faust­hand­­schuh blies, um die erfrore­nen Finger zu wärmen.

Ich fuhr als eine der wankenden Gestalten zum Bahnhof, holte meinen schwarzen Kof­fer aus dem Schließ­fach, löste eine Fahr­karte und fuhr mit dem Nachtzug über Kato­wice Richtung Wrocław. Stunden Aufenthalt in Katowice. Auf Holzbänken, über Ta­schen und Bündel kau­ernd Schlafende. Setz­te ich mich für eine Weile ruhig auf einen Platz, be­trach­tete meine Um­ge­bung, um irgend­wann ein Stück weiterzuziehen. Stellte fest, daß ich so anders und Anderes sah. Auf einer Bank saß eine Frau, einen Arm über zwei Taschen gelegt, den anderen um ein kleines Mädchen, dessen Au­gen munter umher­lie­fen, über Steine, Wände, Bänke, Menschen, als frage sie: und wohin fahren wir heute? Nur manchmal, ermü­det, wenn ein zu schwerer Blick auf ihr lastete, huschten sie hinter die Lider. Nicht weit von ihr entfernt saßen ein Mädchen und ein Soldat. Ihre Wangen glühten, als fieberte sie. Lan­ge saßen beide dort still neben­ein­an­der, doch sprach sie unver­­mit­telt leise und ein­dring­lich auf ihn ein. Er saß sehr gera­de in seiner braun­grü­nen Uni­form aus grobem Stoff, die ihm unbequem wie Packpapier sein mußte, und mit der seltsam eckigen Müt­ze auf dem Kopf nickte er hin und wieder, sah auch kurz zu ihr her­über, blieb aber unnahbar, sich und ihr, allem fremd, eine bunte Ta­sche neben sei­nen Füßen, der er manchmal wie ab­sichts­­los leichte Trit­te ver­setzte. Auffallend sel­ten, wie in Kraków schon, waren Poli­zi­­sten zu sehen, und wenn, dann schlenderten sie läs­sig die Gänge entlang, ohne sich wich­tig zu machen. Niemand belästigte die Schla­fen­den, unter denen offensichtlich auch einige Ob­dach­lose waren, doch bemerkte ich, daß die Reisenden gegenseitig auf­ein­an­der ach­te­­ten. Lange mußte ich nicht mehr warten, der Zug hatte einige leere Abteile, in einem von ihnen konnte ich mich ausstrecken, es war wie üblich über­heizt und nicht lange nach der Abfahrt war ich in unruhigen Schlaf gefallen. Erst weck­te mich der Schaff­ner, später neu hinzugestiegene Fahrgäste, die lärmend Licht mach­ten, herein­­dräng­ten, Alko­hol­geruch verbrei­teten, mich fröhlich einquetschten, eine Schnapsflasche kreisen ließen und zum Mittrinken aufforderten. Wieder kam der Schaff­ner, oder war es ein anderer, denn diesmal hatte er etwas an mei­ner Fahr­karte aus­zu­setzen und rede­te auf mich ein. Ich verstand überhaupt nichts, schließlich hatte ich sie doch für die­sen Zug gekauft. Fehlte ein Zu­schlag oder etwas ande­res, ich sah mich fra­gend um, und nun be­gannen die anderen Mitreisenden auf den Schaff­ner ein­zu­reden, bis der schließ­lich abwinkte und uns allein ließ. Der Zug wurde bei jedem Halt voller, und es war noch nicht fünf Uhr. Die Reisenden standen in den Gängen, saßen auf Ta­schen, selbst Kinder waren mit ihren Müttern unterwegs. Als der Zug in Wrocław hielt, eilten sie über den Bahn­steig, den Aus­gän­gen und ihrer Arbeit zu. Der Bahnhof war größer als der in Kraków, ein Schiff an Land, in dem sich alles bewegte und das deshalb selbst in Bewegung war. Durch den verglasten Giebel ström­­­te Licht, die Seitenwände waren etwa fünf Meter hoch mit schwarzen, glänzenden Ka­cheln ver­klei­det, in die in regel­mäßigen Abständen Spiegel eingelassen waren, deren unru­hige Ober­­flä­chen eigen­artige surrealistische Bil­der er­zeugten. Im Mittelgang stan­­den Reihen von lehnen­losen Bänken, rechts waren die Fen­ster der Fahrkar­ten­schal­ter, links führten kur­ze Trep­­pen zu einer Em­po­re, über die Cafés, ein Friseur, der War­te­saal und ein Re­stau­­­rant zu erreichen waren. Über die Balustrade gelehnt standen hier Män­­ner und sa­hen dem Treiben, dem Kommen und Gehen stunden- wenn nicht tage­lang zu, und nach­­­­­dem ich meinen Koffer in der Gepäck­aufbewahrung deponiert hat­te und einen dünnen Kaffee getrunken, gefiel es mir, mich für eine Weile zwischen sie zu stellen, von ihnen mit neugie­ri­gen Blicken be­dacht, die ich wie altes Inventar mit möglichst lässigem Gruß erwi­derte. Dann machte ich mei­ne „Sightseeing-­Tour“, wie ich das nann­te, indem ich die erstbeste Straßenbahn nahm, mich aufs Geratewohl durch die Stadt fahren ließ, irgend­wo um-, irgend­wo­ an­ders aus­stieg und dabei versuchte, mir Straßen­verläufe und Plätze zu merken. Da wa­ren die Reihen der Fassa­den, alt und neu, und mich verwun­derte zunächst die archi­tek­to­nische Nähe zu alten tschechischen Städt­en, das dunkle Gelb der K.u.k.- Monar­chie und Backstein- Neogotik. Eine jede Stadt macht einsam, wenn man fremd in ihr ist, das kann anregend sein, doch leicht auch nieder­schla­gend. Wrocław hatte etwas Abwei­sendes, ich sah wenige Menschen auf den Stra­ßen. Wa­­ren sie alle in den düsteren Fabri­ken? Ich war froh, einen Häuserblock zu ent­decken, um den herum die Kinder draußen spielten. Mietskaser­nen waren das, blat­­ternarbig, mit Resten von Putz an den Wän­den, und diese Reste voller Löcher wie von Einschüssen, ihr einzi­­ger Schmuck. Das große Geviert des Ho­fes kahl, festge­stamp­­f­te Erde. Ein win­ziger Baum in der Mitte, an ei­nen Pfahl ge­bun­den, zeigte seine letzten vertrock­ne­ten Blätter dem Him­mel, an einer schiefen Teppichklopfstange schau­kelten zwei Mäd­chen. Zu diesem Hof war ich andren Kindern ge­folgt, die Ver­steck spielten, sonst hätte ich ihn kaum gefunden, der Weg führ­te durch eine schmale Lücke wie durch einen Fels­spalt zwischen zwei hohen, kah­len Wän­­den hindurch; Stirn­seiten, die recht­winklig zueinander stan­den, an deren einer dunkle Spu­ren von abgerissenen Schup­pen oder kleinen Häuschen zeugten.

Eine Adresse hatte ich hier nicht, lediglich einen Namen, Andrzej W. Er arbeite an der Universität in der linguistischen Fakul­tät, dort sollte ich nach ihm fragen. Ich fand das richtige Gebäu­de, einen Backsteinbau an einem sonst leeren Platz, und es war ziem­lich verlassen. Türen, Schilder, Flure, endlich hörte ich Schritte, denen ich entge­genging und hatte Glück. Ein Student kannte den Namen und nannte mir ein Café in der In­nen­­­stadt, wo er um diese Zeit wohl anzutreffen sei. Das Café war nicht groß, an ei­nem Tisch am Fenster sah ich einen Mann mit vorsprin­gen­dem Kinn, etwas älter als ich, mit mehreren jungen Leuten, zu denen er schnell, beinahe überstürzt sprach. Ich woll­te sie nicht stören und setzte mich an einen Tisch weiter hinten, als er aber nach einer hal­ben Stunde immer noch nicht mit seiner Rede am Ende war, unterbrach ich ihn, indem ich fragte, ob er Andrzej heiße und mich vorstellte. Worauf er sich eilig von den ande­ren verab­schie­­­dete, sich mit mei­nem Erscheinen entschul­digend, er ha­be wich­tigen Besuch, um mit mir in der Straßen­bahn zu einer kleinen, seltsam voll­ge­stell­ten Woh­­­­nung zu fahren. Stolz zeigte er mir die deutschen Ausgaben von Trotz­kis Schrif­ten und eine Trotzki-Biographie. Er sprach ausgezeichnet deutsch, und nun war ich seinem Wort­­schwall ausgesetzt, doch war seine Rede zuweilen dun­kel, voller An­spie­lungen und Geheim­niskrämerei. Ein Zentral­komitee er­wäh­­­­nte er, eine Orga­ni­­sa­tion, die er leite. Ein Zentral­komitee im Untergrund, zu jener Zeit war das zu­min­dest pit­to­resk.

„Noch sind wir nicht stark, aber wir sind eine Stimme, auf die man hört, denn wir haben Entwicklungen rechtzeitig voraus­gesehen, und wir werden un­se­re kritische Kraft auch weiterhin unter Beweis stellen. Die Solidarnosc- Führung glaubt den Sieg schon in der Tasche zu haben, und die Kirchenfürsten unter­stützen sie in diesem Irr­tum, denn ihr Sieg ist es in jedem Fall. Für die Kirche ist das nicht nur ein wohlfeiler Wech­­sel auf die Zu­kunft, nie war ihre Macht größer als heute, ihre Autorität unge­bro­chener. Die Kirchen sind voller Leute, die unter ihren Schutz fliehen, sich unter den Prie­ster­röcken verstecken wie erschrockene Kinder unter den Röcken der Mutter. Die Gewerk­­­­schaft hätte ihre Siege ohne die Zu­­stimmung, ohne den Einfluß der Kirche und ihres Vaters, des Pap­stes, nicht errungen. Das macht sie abhängig, und ein großer Teil der Flügelkämpfe, die im Verborgenen statt­­finden, sind diesem Einfluß geschul­det. Käm­pfe­rische und radi­kale Führer werden an den Rand und hinaus­gedrängt, wäh­rend die Macht der Kirche nur größer wird, selbst, wenn die russischen, oder auch pol­ni­schen Pan­zer kommen und der Name ‘Solidar­nosc’ nur noch eine liebevoll ge­pfleg­te Erin­ne­rung, ein Mythos sein wird. Aber das sind nur Zwi­­­schen­spiele. Das Einzige, was jetzt wirk­lich erreichbar ist, das ist der Kapitalismus. Und wenn dann die Menschen sehen, was er wirklich ist, wenn sie endlich von ihm die Nase voll haben, und nicht mehr nur von diesem in­ef­fizienten Staatsmonopolismus, erst dann kommt die wahre Re­vo­­­lu­tion. Auf sie müssen wir vorbereitet sein.“

Wir saßen in einem schmalen, dunklen Zim­mer auf Matratzen und tranken Tee mit Rum zu seinen Reden. Irgendwann klin­gelte es. Heute fände bei ihm eine Versamm­lung statt, erklär­te er.

„Tagt das Zentralkomitee?“ fragte ich, denn so etwas hätte ich gern ein­mal miterlebt.

„Nein, lediglich die hiesige Führung.“ antwortete er mit einem prü­fenden Seiten­blick. Er würde mir die Genossen vorstellen, doch dann müßten sie für eine Weile allein mit­ein­ander sprechen, später könnten wir uns im größeren Kreis unterhalten. Der grö­ße­re Kreis machte mit ihm drei Genossen, die in der Küche tagten, aus der ich nur Andrzejs durchdringende Stimme hörte, dafür auffallend oft. Sei­­­ne Stimme und sein Gebaren machten ihn schon als Politiker tauglich, eigentlich auch der ver­knif­­fene und zuweilen leicht zynische Zug um die Mund­winkel. Nur als Anführer einer Gruppe junger Stu­den­­ten (und Arbei­ter, wie er sehr betonte), schien er mir wenig geeignet. Die Unterredungwar kurz, von seinen zwei Genossen verabschiedete sich die junge Frau sogleich, während ein schlak­­siger junger Mann eine Weile auf der Matratze mir gegen­über­saß, mich mu­­­­sternd, um außer Floskeln nichts zum Gespräch beizusteuern. Wenn ich ihn etwas frag­te, schien er erstmal aus einer seltsamen Erstarrung aufwachen zu müssen. Als auch er gegangen war, konn­te ich mich von Andrzej weiter in die Ge­heim­­nisse und seine Deu­tun­gen pol­ni­scher Politik einführen lassen. Ich wollte mit dem Frühzug nach War­schau weiter­fahren, und er gab mir die Adresse einer Ger­ma­nistik­stu­dentin, die sei­ner Grup­pe ange­hörte und ein Päckchen, das ich ihr über­brin­gen sollte. Gegen Mitter­nacht war wohl nicht sein Vorrat an Ge­sprächsstoff, dafür an Rum erschöpft. Ich war es auch und legte mich auf den Matratzen schlafen.

Noch verschlafen und leicht verkatert löste ich im Bahnhof mei­­nen Koffer aus, was selt­same Um­stän­de machte. Zuerst mußte ich an einem anderen Schalter bezahlen, wofür ich einen Stempel auf meinen Gepäckschein bekam, um mich dann am ersten Schalter wie­der in die Reihe stellen, und dann hatten die beiden Angestellten in ihren blauen Kitteln Mühe, ihn zu finden. Schliesslich entdeckte ich ihn unter einem Stapel anderer Koffer.

Der Zug fuhr sehr schnell, stundenlang stand ich im schwankenden Speisewagen, in dem es keine Sitzplätze gab, an einem der ovalen Tische und konnte in beide Rich­tun­gen in die vorbeifliegende Land­schaft sehen. Da war Weite, waren schneebe­deck­te Felder, durch den Himmel zogen Vögel, und es gefiel mir, dicht über die Erde zu fliegen und den Blick in die Weite zu schicken. Daraus entstand ein Spiel des Blicks gegen die Zeit: festhalten, festhalten – ein Spiel gegen die Geschwindig­keit. Wieviel konnte ich aus der Nähe festhalten. Da, das Stellwerker­häuschen, das schon nicht mehr da ist, ich habe es genau gesehen, und das Gesicht der Frau, das aus dem kleinen Fen­ster sah, rundlich, mit schmalem Mund und dunklen Augenbrauen, ich werde es nicht ver­ges­sen.

 

Und es war wie eine Verabredung mit der Zukunft.

 

Hier werde ich einmal ent­lang­gehen, oder hier, durch diesen Wald. Ich wußte, daß die Wahrneh­mung beim Gehen völlig anders sein würde, und konnte mich doch dort entlanglau­fen sehen. „Irgend­wann, irgendwann, ir­gend­wann…“ ratterten  höhnisch die Räder. „Bald, nicht mehr lang“, klang es in mir. Aber der Schnee, der dünne, unbe­rührte Schnee, der über allem lag wie verschlissenes Tuch, hatte etwas Zeh­ren­des, war wie zu tief in das blasse Grau des Himmels getaucht.

Warschau, ein eigenartiger Bahnhof, Beton und Glas. Die ganze Stirnseite verglast, doch wie war das möglich, daß die Menschen hier zu Ameisen wurden, so daß ich das Gefühl hatte, hier niemals jeman­dem begegnen zu können, obwohl doch in der Halle nicht wenige Menschen waren? Eine Halle ohne Linien, ohne Perspektiven, nichts, was den Blick an- und weiterzog, und schon war aus der Halle Hölle gewor­den. Wie zur Bestä­tigung meines Blicks zeigte sich am anderen Ende ein Widerpart: Ein jun­ger Sol­dat stand hoch auf­ge­richtet vor der verglasten Eingangsfront, eine Tasche vor seinen leicht gespreiz­ten Beinen, und ließ, die ihm Entge­gen­kommen­den her­aus­for­dernd musternd, seine Blicke durch die Halle schweifen. In Warschau hatte ich jetzt zwei Adres­sen, eine, die ich von Adam Zaga­jews­ki bekom­men hatte und eine von Andrzej, und ich ent­schied mich, zuerst die zweite aufzusuchen. Die Tür in dem sehr schlich­ten Beton­bau, von denen es hier viele gab, und die an nichts erinnerten, als an die Zer­stö­run­gen des Krieges, wurde von einer kleinen rundlichen jungen Frau geöff­net, der ich Grüße ausrichtete und das Päckchen über­reichte, das ich etwas umständlich dem schwarzen Koffer ent­nahm, den ich bei ihr unterstellen konnte, ehe sie mit mir hinausging. Sie hieß Beata, und während wir in der Stra­ßenbahn durch War­schau fuhren, erzählte sie mir in ihrem weichen und lustigen Deutsch eine lange Geschichte. Im letzten Sommer war sie in Deutsch­land gewe­sen, in Heidelberg, wo sie bei dem sehr freund­lichen Professor für Politologie wohnte, der zuvor in Warschau auf einen Kongreß gewe­sen war, mit ihr als Dolmetscherin, und der sie nun eingeladen hatte. Etwas anderes wäre für sie auch nicht mög­lich gewesen. Sie beschrieb die gepflegte Wohnung, die Ehefrau, die Kinder, die Mahl­­zeiten und die Abende vor dem Fern­seh­apparat, die immer mit der Tagesschau begannen. Doch an einem Abend im August war der Fernsehabend empfindlich gestört worden von den eingetroffenen und ver­kün­deten Nachrichten. Der Professor stopfte sich seine Pfeife und lief um die nie­­d­­rige Glasplatte seines Wohn­zimmertisches herum, viele Male, Qualm­wolken ausstoßend und sich fassungslos an den Kopf grei­fend: „Das ist doch nicht möglich, das kann doch gar nicht sein, in Po­len, in Ost­europa eine unabhängige Gewerkschaft!

 

Eine freie Ge­werk­­schaft im Osten, das glau­be ich nicht, das geht doch gar nicht!“

 

„Dabei hatte ich ihm schon Tage vorher gesagt, daß es zwi­­schen der Regierung und den Streikenden kein Abkommen ohne unabhängige Gewerkschaft geben würde, das sei für sie das Wich­tigste. Aber er hat immer nur mit ironischem Lächeln abgewunken und gemeint, ich solle aufhören zu träumen.“ Der arme Professor, ich mußte herz­lich lachen und bat sie, mir zu zeigen, wie sein Gesicht ausgesehen hatte, als plötzlich eine barsche Stimme aus der Mitte des Wagens tönte:

„Halt endlich dein Maul!“

Erstaunt sah ich mich um, und da standen sie, drei Männer Mit­te vierzig in schwarzen Leder­jacken, drahtig, mit kurzge­schnit­te­nen Haaren, die Stirn voll dünner, waagerechter Linien, Fal­ten wie mit dem Lineal gezogen, die mit eisigen Augen zu uns r­über­starrten. Oh, wie ich sie kannte!

„Ach, die Herren von der Sicherheit. Was wollt ihr denn hier, ihr seid doch hier ganz fehl am Platz. Wir sind hier nicht in Bautzen oder Brandenburg. Wollt wohl Ordnung machen, was? Eure Ordnung, die da ist, wo nichts ist. Aber hier geht das nicht, und das ist euch unheimlich, nicht? Hier habt ihr gar nichts zu melden und zu befehlen.“

Eine Weile war Ruhe, dann beugte sich einer in meine Richtung und sagte drohend:

„Wir können uns auch woanders unterhalten.“

„Am besten, ihr ver­schwin­det, sonst sagen wir mal eben den Leuten hier, wer ihr seid.“

Die Leute waren still, sehr still und sahen aus dem Fenster. Falls sie überhaupt ver­stan­den hat­ten, was da vorging, ging es sie einfach nichts an. Doch an der nächsten Hal­te­stelle waren wir die drei Lederjacken los – weil ich mit der Studentin ausgestie­gen war. 

„Warum hast du nicht irgendwas auf polnisch gesagt, möglichst laut, um die Idioten zu erschrecken?“ Beata sah mich mit runden Augen an.

„Wer waren die? Was war denn plötzlich los?“

„Das waren Offiziere der ostdeutschen Staatssicherheit.“

„Waas? Und was wollen die hier??“

Da mußte ich doch wieder lachen und nahm sie in die Arme.

„Was werden die schon wollen? Ihr seid mir ein lustiges Völk­chen. Geht nur immer euren Weg und kennt eure Feinde nicht. Das ist auch Tapferkeit. Ja, und darin habt ihr wohl recht, wer immer nur auf seine Feinde starrt, wagt am Ende überhaupt kei­nen Schritt mehr zu machen. Sie sind sicher nicht allein hier, dazu sind sie wirk­lich zu feige. Sie sind ja nicht hergekommen, um etwas zu lernen. Wer weiß, wie viele sie sind.“

Wir waren losgefahren, weil sie mir zeigen wollte, wie die Studenten in Warschau streik­ten, also fuhren wir mit der nächsten Bahn zur Universität. Ein flacher, langer Bau, der voller Studenten war, die auf dem Boden saßen, weiter hinten stand ein Pult mit einem Strauß Blumen. Eine seltsame Spannung herrschte. Beata fragte, um Erkun­di­gungen einzuholen und flüsterte kurz darauf aufgeregt:

„Es ist eine Lesung.“

„Eine Vorlesung?“

„Nein. Miłosz. Weißt du, das heißt Freiheit. Unser größter Dich­­­ter kommt.“

„Czesław Miłosz?“

„Ja, er ist zu uns gekommen, er ist hier, er wird für uns lesen.“ Wie sie sich freute, wie stolz sie war. Seit vielen Jahren lebte er im Exil, und jetzt war er wieder bei ihnen. Wir muß­­ten noch eine ganze Weile warten, ehe ein älterer Mann in Begleitung einiger kräf­ti­ger junger Männer erschien, sich ans Pult stellte, die Lampe anknipste und sich räus­per­­te. Er neigte seine langen buschig geschwungenen weißen Au­gen­brauen seinen Zu­hö­­­rern entgegen und begann ohne weitere Um­stände seine Gedichte vorzutragen. Ich verstand von allem lediglich die Musik seiner Spra­che. 

Nach der Lesung begrüßte Beata ihre Bekannten, die sie aus der Zeit kannte, als sie die geheime Studenten- Bibliothek der führte und sprach mit ihnen. Ich erfuhr, daß der Streik schon zwei Wochen dau­erte, an ande­ren Universitäten noch länger, und daß es ihnen vor allem um neue Statuten, die Anerkennung des unabhängigen Stu­den­tenver­ban­des, um größere Rechte ging. Aus dem Krankenhaus nebenan hatten sie Geld für den Streik bekommen, von der ame­rikanischen Botschaft Käse. Das Krankenhaus litt unter Personal­mangel, des­halb gingen jeden Tag fünf oder sechs Stu­denten hinüber, um beim Saubermachen oder in der Küche zu helfen.

Auf der Rückfahrt zu ihrem kleinen Zimmer, ihrer Studenten­bude, erzählte sie von ihrer Mutter, die in der Univer­­si­täts­­bibli­o­thek arbei­­­tete.

 

„Im November, als es auf Spitz und Knopf stand, daß sie ein­mar­schieren, die Russen stän­dig drohten und in Grenznähe große Manöver abhielten, saßen wir vor dem Fern­seher und sahen im­­mer wie­der Nachrichten. Das Programm war zu Ende, sie schal­tete den Apparat aus, setzte sich hin und dachte lange nach. Dann sagte sie:

 

‘Ich habe vergessen, wie man diese Flaschen füllt. Ich habe es vergessen, aber es wird mir schon noch einfallen.’

 

Das sagte sie so ruhig, ganz ohne Leid.“

Beata beschrieb mir den Weg zur neunen Adresse. Ich nahm den Koffer entgegen und fuhr in eine der Haupt­­straßen in der Innen­stadt. Straßenbahnen, Busse und Autos ratter­­ten, quietsch­ten, donnerten ent­lang. Das Haus sah, für hiesige Verhältnisse, vornehm aus, das stei­nerne Treppen­haus war einfach und angenehm, die Wohnung lag im ersten Stock. Eine Frau in den Fünf­zigern, die Kraft ausstrahlte, mit kurzen, schon etwas grau­­­en Haaren, die sie nicht ver­barg und mit rundem Gesicht öffnete mir. Alles an ihr wirk­te breit, doch nicht behä­big. Sie trug ein gerade herabfallendes Kleid mit großen Mu­stern, das etwas exotisch wirkte. Es stammte aus Italien, wie ich später erfuhr. Renata, so hieß sie, liebte Italien, sprach sehr gut italienisch und war schon mehrmals dort gewe­sen, was sie in ihrer Begeisterung bestärkt hatte. Während ich mich vorstellte, sah sie mich, meinen Mantel, den Koffer aufmerksam an, dann bat sie mich hinein und wir sprachen im Wohnzimmer weiter.

„Zagajewski, wann kommt er? Er soll zurückkommen. Es ist eigentlich eine Zeit, die ein Schriftsteller nicht verpassen darf.“

„Ein Freund von Adam, den ich vor ein paar Tagen traf und der auch schreibt, sagte, jetzt sei keine Zeit zum Schreiben, sich zu konzentrieren, Adam solle lieber noch warten, ehe er zurück­­kommt.“

„Es ist immer mal Zeit zum Schreiben und mal Zeit zum Leben. Ich habe Zagajewskis Arbeiten auch immer so ver­stan­den, daß er lebte und dann darüber schrieb. Ich möch­te keine Stunde missen. Das war für mich im Krieg schon so. Ich war noch ein Kind, aber es war schlimm für mich, daß wir von Warschau weggingen. In Warschau pas­sier­ten so viele Dinge, dort, wo wir dann waren, nicht. Das war schrecklich für mich, ich wollte dabei sein. Es war nicht schön, was geschah, es war ja Krieg, viele starben, auch von meinen Freunden und Verwandten. Aber ich wollte es sehen, miterleben und nicht so weit weg sein. Ich kann mir nicht vorstellen, jetzt woanders zu sein, das ist unmög­lich.“

Sie lebte in einer Drei-Zimmer-Wohnung mit ihrem Sohn, der verreist war, und dessen Zim­mer ich deshalb bekam und einer sehr alten Frau, die kaum noch gehen konnte.

„Das ist meine Großmutter – nicht meine Großmutter. Ich hab sie im Krieg aufge­nom­men, ich hatte keine Eltern mehr. Ich kann sie unmöglich ins Krankenhaus geben, die Bedin­gungen sind dort zu schlecht. Keine Ärzte, keine Pfleger. Krieg ist etwas Schreck­liches. Schrecklich.“

Sie zeigte mir das Zimmer ihres Sohnes, das nicht groß war, aber vor allem nach hin­ten, zum Garten hin lag und ruhig war. Es wirkte seltsam anonym. Eine mit dem Zirkel an­ge­fertigte Zeich­nung hing an der Wand, eine Rosette aus bunt ausgemalten Apfel­­­si­nen­scha­len- Zweiecken. Kein Zweifel, daß er Ingenieur wer­den wollte. Sie nickte als Antwort auf meine Frage mit einem kleinen Seufzer. Ihre Liebe zu Sprachen, zur Dich­tung, zur Musik – nichts, nicht einmal ihre Freude am Reisen konnte sie mit ihm tei­len, er hatte sich als Ersatz für den fehlenden Vater eine Männer- Wissenschaft erwählt.

Nun ging ich täglich hinaus, für viele Stunden in diese Stadt mit den vielbefahrenen Stra­­ßen, den vielen leeren Plätzen und Häu­ser­­lücken. Wie sie einmal gewesen war, konnte ich mir nicht vor­stel­len, sie blieb eine Ruine ohne inneren Zusammenhang. Oft strich ich um den unglaublich widerwärtigen Kulturpalast herum, diesen Turm der bö­sen Geister, dessen Spitze eigentlich in einen Schwarm schwarzer, schreiender Vögel ragen sollte, statt in blau­en Himmel; ein Geschenk an das polnische Volk, als der Dik­ta­tor in Moskau schon zwei Jahre physisch tot war. Groteske Skulp­turen standen auf Sockeln doppelter Menschengröße oder in Ni­schen als Neuzeitapo­stel: martialische Arbeiter, Arbe­i­te­­rinnen, mit Maschi­nenteilen in Händen, dickleibigen Büchern im Arm, auf einem ge­mei­ßelten Buchumschlag stand in jeweils einer Zeile MARX ENGELS LENIN zu lesen, darunter war eine Zeile etwas unge­schickt ausgemeißelt worden. Am besten fand ich aber eine junge In­tel­li­genzlerin, die vorgab, etwas zu schreiben – mit einem derma­ßen klobigen Griffel, dem Inbild der offiziellen Weis­heit, daß es schwer vor­stellbar war, wie sie den in Bewegung setzte.

Auf einem der kahlen Plätze fragte ich einen Passanten, wo das jüdische Ghetto gewe­sen sei. Er verstand erst nicht, dann sah er sich irritiert um und sagte:

„Ja, es muß hier gewesen sein, da drüben stehen noch Häuser, die dazugehörten. Es sind die einzigen, mehr gibt es nicht. Viel­leicht waren das auch die ersten polnischen Häuser hinter der Ghetto­mauer, ich weiß nicht.“

Eine kurze Häuserzeile, mehr war nicht übrig geblieben. Men­schen gingen in die Häu­ser und wieder hinaus, überquerten die hü­ge­lige Fläche bis zur nächsten Straße.

Abends saß ich dann mit Renata in ihrer Küche und erzählte von meinen Exkursionen. „Ja, der Kulturpalast, ein ungeliebtes Ge­schenk, das wir uns nicht mehr vom Hals schaf­­­­fen können. Darin sind die Russen Meister. Aber wissen Sie,“ – wir sprachen uns mit Vornamen an, blieben jedoch beim vornehmen Sie – „wissen Sie, daß es darin ein großes Theater gibt?“ Das konnte ich mir vorstellen, warum nicht. „Teatr Drama­tycne heißt es und wird von einem unserer besten Regisseure geleitet. Andrzej Wajda kennen Sie im We­sten natür­lich auch. Er macht wunderbare Filme, aber als The­ater­regisseur schätze ich ihn nicht, es wirkt alles wie Kino. Aber dort in diesem Bau machen sie wirk­­­­lich großes Theater.“

Vorsichtig fragte ich sie nach Jacek Kuron, ich zeigte ihr die Adresse, ob sie mir sagen könne, wo das sei.

„Zu Kuron wollen Sie?“ Sie sah mich neugierig an. „Ich kenne ihn, unsere Familien sind schon lange befreundet. Er wohnt ganz in der Nähe, ich weiß aber nicht, ob er gerade in Warschau ist, er ist in letzter Zeit ständig unterwegs. Aber wenn es Ihnen recht ist, werde ich mich erkundigen. Darf ich fragen, was Sie von ihm wollen?“

„Ich habe einen Brief für ihn von tschechischen Freunden, die er sehr gut kennt.“

„Und den wollen Sie nicht mit der Post schicken.“

„Natürlich nicht.“

„Natürlich nicht.“ Sie lächelte. „Und ich soll ihn auch nicht über­­bringen?“

„Seien Sie mir bitte nicht böse, aber es ist für mich auch eine gute Gelegenheit, ihn ken­nenzulernen. Vor sieben Jahren, glaube ich, ha­be ich das erste Mal von ihm gehört und mit Freunden, damals noch in der DDR, das Buch gelesen, das er zusammen mit Modzelewski ge­schrie­ben hat.“

„Ja, das war auch für uns sehr wichtig. Selbst für jemanden wie mich, die ich mit der Partei nie etwas Positives verbunden habe, war es ermutigend, zu erfahren, wie zwei junge Intellektuelle den Bruch mit ihr vollziehen und begründen.“

„Sie werden mich also verstehen. Es ist etwas anderes, als bloße Neugier.“

„Ach, ihr ernsthaften jungen Leute. Ich wollte Sie nur ein wenig auf den Arm nehmen. Machen Sie sich keine Sorgen, wenn ich ihn erreiche, werden Sie sehr gut vorgestellt werden.“

Am nächsten Tag schüttelte sie den Kopf: „Er ist in Poznan, kommt aber vielleicht mor­­gen zurück.“

Am darauffolgenden Tag wieder Kopfschütteln. „Er war nur kurz da, hat Wäsche ge­wechselt und ist gleich wieder weiter­gefah­ren. Jetzt ist er in Bydgoszcz. Am besten, ich ge­be Ihnen die Telefonnummer und Sie versuchen selbst, ihn zu erreichen. Am Wo­chen­­­ende ist die Chance am Größten.“

 

Bis dahin waren noch drei Tage. Renata hatte mich eingeladen, so lange zu bleiben, wie ich wolle, das Zimmer stehe ohnehin leer. Immer wieder versuchte ich in den fol­gen­den Tagen, Kuron telefonisch zu erreichen, immer vergebens. Am Samstag hatte ich, doch überrascht, seine Stimme im Ohr, rauh und sonor, eine star­ke Whisky-Stim­me, womit ich ihm nichts unterstellt haben will.

„Ich habe schon gehört, daß Sie mich sprechen wollen. Ent­schul­digen Sie, daß es so lan­ge gedauert hat, aber vielleicht kön­nen Sie sich vorstellen, daß unsere Situation außerordentlich schwie­­rig ist. Wann können Sie kommen? Sofort? Gut, dann kom­men Sie.“

Fünf Minuten später stand ich vor seiner Tür. Seine Frau bat mich herein, er sei im Arbeitszimmer. Die Wohnung war geräu­mig und angenehm spartanisch eingerichtet, das Arbeits­zim­mer eher klein, und hinter dem etwas schräg gestellen dunklen Schreib­tisch, der ihm zweifellos auch als Barriere diente, saß er in einem rot-schwarz karierten Flanell­hemd, kurzgescho­re­nem ova­len Schädel und wirkte ungeheuer müde, dicke Trä­nen­säcke hin­gen unter den Augen.

„Kein Wunder“, knurrte er, als ich ihn darauf ansprach,

 

„Ich hab ja schon viel gemacht, Heizer in Nachtschicht und was weiß ich, aber noch nie hab ich so eine Scheißarbeit gehabt.

 

Ich bin jetzt die Feuerwehr, die Streiks löscht. Nicht bricht, bitte sehr, son­dern löscht. Und da so viele Jahre, die für die Arbeiter verlo­ren waren, nach­zuholen sind, strei­ken sie im Moment überall. Es ist eine Art Volkssport geworden, den wir uns ein­fach nicht lei­sten können. Wir vermitteln, hören beide Seiten an und schla­gen Lösun­gen vor. Nach so vielen Jahren Kommandowirtschaft ist die Kommu­­nika­tion zwischen Be­triebs­leitung und Arbeitern natürlich gestört, es gibt heftige Aver­si­o­nen, auch Haß. Nie hätte ich ge­dacht, daß ich sowas machen muß. Streik, Aufstand, Wider­stand – wie könnte es davon jemals zu viel geben. Glau­ben Sie, wenn die Arbeiter diese Partei­bonzokratie zum Teufel jagen würden, wär ich bekümmert? Das Dumme ist, wir sind nicht allein – und wären wirs, wären wir kaum in dieser Situation.“

Er lachte rauh und wischte sich Tränen aus den Augen, die eher seiner Müdigkeit ge­schul­det waren.

„Ja, nicht allein, sagen Sie. Ich habe da einen Brief für Sie mitgebracht, von Jaroslaw Š. und seinen Freunden in der Tsche­cho­slowakei. Ich soll Sie herzlich grüßen.“

„Haben Sie persönlich mit ihm gesprochen?“

„Ja, und er hat mich eindringlich gebeten, Ihnen auch persön­lich zu sagen, wie wichtig ihm ist, was sie schreiben.“

„Ich muß es ja erst mal lesen, einen Augenblick bitte.“ Er ent­faltete den Zettel, setzte sich eine Brille mit dickem Rand auf die Nase und ent­zifferte die winzige Schrift in Augenhöhe.

„Gut. Selbstverständlich haben wir über diese Fragen auch nach­­­gedacht und sind kei­nes­wegs anderer Ansicht. Es ist aller­dings wahr, die Stimmung im Land ist anders, der all­­ge­meine Te­nor ist, wenn wir es nicht schaffen, ist das unsere Niederlage, dann sind wir ver­­­antwortlich. Wenn aber die Russen Panzer schik­ken, ist es nicht un­sere Schuld. Ich hö­re das auch von guten Freunden, aber es ist ein bißchen zu einfach, etwas bequem. Wie sagen die Är­­zte gern, wenn sie unter sich sind? Die Lage ist ernst, aber Hoff­nung haben wir auch keine. Solidarnosc hat zu viele Pro­bleme auf einmal zu lö­sen. Die Ver­an­ke­rung bei den Menschen ist gut, sehr gut; auch in der jun­gen Intelli­genz, was lange ein Problem war. Jetzt bildet sich der unabhängige Studentenverband, und die Streiks der Studenten un­ter­stütze ich, wo ich nur kann. Aber es ist wahr, wir haben fast kei­ne Ver­bindung zu den Sol­da­ten, in die Armee. Die ist traditionell abge­schottet, das ist ein ernstes Problem. Darin haben die tschechi­schen Freunde recht, da­rü­ber müssen wir noch einmal nach­denken. Werden Sie Jaros­law auf der Rückreise tref­fen?“

„Leider nicht, ich habe nur ein Transitvisum. Aber seine Toch­ter werde ich in Prag auf jeden Fall wiedersehen.“

„Also erwartet er keine sofortige Antwort. Richten Sie bitte Grü­­­ße aus. Wir nehmen ihre Besorgnisse ernst. Ich werde seinen Brief weitergeben. Kann ich etwas für Sie tun, was wird ihre näch­­ste Station sein?“

„Gdañsk.“

„Haben Sie die Adresse der dortigen Solidarnosc- Zentrale? Sie liegt direkt im Zentrum, kaum zu verfehlen. Dort arbeitet eine Freundin von mir in der Abteilung für Doku­men­tation, ich glaube, das wäre sehr interessant für Sie, hier ist ihr Name.“ Und damit überreichte er mir einen Zettel. Sein Händedruck war sehr kraftvoll.

„Gute Reise, und viele Grüße an Ihre Freunde.“

„Alles Gute für Sie, wir alle drücken den Polen die Daumen. Eine Frage noch: Modze­lewski – sind Sie mit ihm noch be­freun­det?“

 

„Aber ja, aber ja, wir haben uns nie aus den Augen verloren. Wis­sen Sie, wenn man zusam­men im Gefängnis war und sich dort unter dem Druck nicht entzweit hat, warum dann später? Wir treffen uns immer wieder mal, sitzen eine Nacht zusammen und trinken was. Für die Lauscher muß das jedesmal eine herbe Ent­täuschung sein, außer sie haben Freude an neuen Witzen. Über Po­li­­tik reden wir dann nicht viel, wozu auch, wir wissen, wie der an­dere denkt.“

 

Zwei Tage später war ich reisefertig und mit Koffer und Fototasche auf dem Bahnhof nach Gdañsk, abends, weil ich diesmal den Nachtzug nehmen wollte, als ich plötzlich vom gegen­über­lie­genden Bahnsteig in bläulichem Licht den starren Blick aus zinnernen Augen wahrnahm. Die Gegenprobe, ein we­nig zielloses Da­­hin­schlen­dern, Bahnsteige wech­­seln, zum Aus­gang ge­hen, machte klar, daß ich "sie" auf den Hacken hatte. Sie­dend­ heiß fiel mir ein, weshalb, was mein Fehler gewesen war, der ein­zige bisher, dafür schwerwiegend. Ich hatte mit Kuron tele­fo­niert, und das bedeu­tete, daß ich sie auch nicht mehr loswürde. Zwar hatte ich meinen Namen am Telefon nicht genannt, aber sie mußten ja nur in der Nähe seiner Wohnung warten, um zu sehen, welcher Trottel da käme. Was war zu tun? Erst mal nichts. Sie wa­ren zwar lästig, aber nicht bedrohlich. Wenn ich zu Bujak wollte, mußte ich mir allerdings etwas ein­fal­len lassen. Wenn ich sie nicht abhängen konnte, durfte ich nicht zu ihm gehen, das war klar. Für schwerwiegender hielt ich das Problem der Rückreise. Sie würden mich aus dem Zug holen und stundenlang festhalten, erst die polnischen Grenzer, dann die tsche­­­chischen.

Bis zur Abfahrt des Zuges hatte ich noch Zeit, ich ging zur Schalterhalle und besorgte mir Strec­kenpläne und Fahr­zeiten, ich mußte einen Weg finden, wie ich mich durchmo­gelte. Hier auf dem Bahnhof waren sie zu zweit, soviel ich sah, einer würde also im Zug mit­fah­ren.

 

Wir rasten durchs Dunkel, und während mein Be­glei­ter im Nachbarabteil auf mich auf­paßte, war ich die halbe Nacht damit beschäf­tigt, Pläne zu machen. 

 

Am nächsten Morgen erwachte ich blin­zelnd in leicht ver­schleiertes Son­nenlicht, das wie von einem blinden Spiegel zurückgeworfen, über einer flachen, mit feinem wei­ßen Schnee bestäubten Landschaft lag. Wo waren wir? Ich sah Vor­gär­ten, die kahlen beschnittene Zweige von Obstbäumen, Zäune sich weithin erstrecken. Zwei­fel­los ein Vorort von Gdañsk, das wir um diese Zeit er­rei­chen sollten. Ein Bahn­steig flog vorbei, ich konnte das Schild nicht entziffern. Halt, nachdenken. Wo mußte ich aus­stei­gen? Der junge Mann, dessen Adresse ich hatte, wohnte in einem der Vororte, wie hieß der noch – Gdañsk-Innowalski? Verdammt, ich wußte es nicht mehr, lediglich, daß ich vier Stationen vor dem Hauptbahnhof aus­steigen sollte. Der zwei­te Vorortbahnhof, an dem wir gehalten hatte, lag schon hinter uns. Ich warf mir Mantel und Schal über, schnappte die Tasche, den Koffer und eilte zur Tür. Der nächste war es keinesfalls, der hieß ganz anders, aber jetzt, dieser? Ich stieß die Tür auf und stieg aus, der Zug hatte kaum gehalten – und fand mich allein auf einem gottverlassenen Perron wieder. Den Spitzel war ich immer­hin los, wie ich er­staunt feststellte. Ein wenig unentschlossen trieb ich die Straße entlang, es war wie­der kalt geworden, ein Café zu finden, wär jetzt nicht schlecht. Aber hier, wo ich keinem Men­schen begegnete? Immer­hin wußte ich, daß ich in Fahrtrichtung, also in Rich­tung Gdañsk lief, und richtete mich darauf ein, die nächsten ein, zwei Stunden zu Fuß zu gehen, als ich an einer Ecke ein unscheinbares Restaurant entdeckte, zu dessen Tür vier Stufen hinaufführten. Eine weitere Überraschung: die Tür ließ sich öff­nen! Ich trat ein, stellte den hier irgendwie zu großen Koffer an die Wand und setzte mich an einen der leeren quadratischen Holztische unweit der Tür, bestellte eine Portion Rührei, Kaffee und holte mein Notiz­buch hervor. An einem Tisch auf der ande­ren Seite der Eingangstür saßen junge Leute, die mich und den Koffer musterten, worauf sie sich leise unterhielten, drei Jungs und ein pummliges, unschönes Mädchen. Die Gesichter der Jungs gefie­len mir gar nicht, zu viele harte Linien, kalte Augen. Nach­dem ich gegessen hatte, ging ich zum Wirt, um ihn zu fragen, wo ich wäre und wie ich zu dem Ort käme, zu dem ich wollte. Plötz­lich stand das Mädchen neben mir und radebrechte etwas, wobei sie von den anderen beobachtet wurde. Sie wollten mir den Weg zeigen, soviel ver­stand ich. Sie redete auf mich ein und gestiku­lierte, ich solle ihr folgen. Die anderen waren aufgestanden und hatten das Restaurant verlassen. An der Tür warf ich einen Blick zum Wirt, der sich wohl Mühe gab, nach nichts auszusehen. Sie ging die Stu­fen hinunter, die anderen waren nicht zu sehen. Das Mädchen winkte, ich folgte ihm zur Ecke, und da standen sie. Warum sollte ich zu ihnen gehen? Ich schüttelte den Kopf, und zeigte, sie sollten zu mir kommen. Das Mädchen stand einige Schritte weiter, zwi­schen den Jungs und mir. Dann faßte es offen­sichtlich einen Entschluß, bedeutete mir, ins Restaurant zurück­zu­gehen und ging selbst zu den anderen. Der Wirt sah noch un­durch­dringlicher drein, der Koffer und die Tasche standen immer­hin noch da. Bald darauf kam das Mädchen, allein, setzte sich zu mir an den Tisch und lächelte zuver­sichtlich. Sie würde mir den Weg zeigen, wenn ich ein Taxi bestellte und sie mitnähme. Das war kein schlechter Vorschlag, fand ich, ein Taxi könnte hier nicht teuer sein, und für eine Weile könnte ich ihre Gegenwart wohl er­tra­gen, hatte sie mich doch, wie ich annahm, vor ihren Kum­panen gerettet. Das Taxi wurde gerufen, sie bekam einen Kaffee, dann bezahlte ich und das Taxi kam. Vergebens versuchte ich sie auf den Platz neben dem Fahrer zu komplimentieren, sie müsse ihm schließlich den Weg zeigen, doch stand meine Fototasche Zudring­lichkeiten im Wege. Wir verließen den tristen Vorort, um in eine der erstarrten Betonkästenexplosionen zu geraten. Wo es hin­wolle, fragte ich das Mäd­chen. Dümmliches Lächeln war für mich keine hinreichende Antwort. Wo es aussteigen wolle. Es wollte mit mir aussteigen. Endlich war ausgesprochen, worüber sie mit den Jungs verhandelt hatte. Ich ließ den Fahrer halten und öffnete ihr die Tür. Sie war wirklich ver­blüfft, sogar beleidigt, weshalb ich ihre weiße und etwas formlose Hand küßte. Erleich­tert atmete ich auf, als wir weiterfuhren. Wir fan­den bald den richtigen Eingang, den ich wohl ohne Hilfe des Taxi­fahrers nie gefunden hätte, er lud den Koffer aus und verabschiedete sich  sehr freundlich, die Szene mit dem Mädchen hatte ihm wohl gefallen. Ich klingelte, es war noch früh am Tag, deshalb bekam ich eine quä­kende Stimme zu hören, was mich mächtig freute. Er verstand mich nicht, ich ihn nicht, also rief ich, er solle mir einfach nur sagen, im wievielten Stock er wohne, ich käme herauf. Im fünften Stock, die Tür war nur angelehnt.

„Komm rein!“ rief er, „ich bin im Bad, muß gleich los!“ Ich hör­­te, wie er sich rasierte, und dann stand ein junger, fast zu dün­ner Mann mit halblangen dunklen Haaren und schwarzen Augen vor mir.

„Woytek. Woher hast du meine Adresse? Tut mir leid, ich habs eilig. Was hast du vor, kannst du mich begleiten? Ich fahre zur Uni. Du hast Glück gehabt, daß ich noch da bin.“ Und mit Blick auf meinen Koffer: „Was machen wir mit dem, kannst du den hier lassen?“

„Kommt drauf an. Kann ich bei dir übernachten?“

„Kein Problem. Wenn es dir nichts ausmacht, daß es etwas wei­ter weg ist vom Zen­trum.“

„Deine Adresse hab ich übrigens von Andrzej.“

„Ach, was macht er, bereitet er schon wieder einen Kongreß vor, oder einen Umsturz?“

„Sicher, sicher. Aber ich bin noch nicht eingeweiht. Übrigens hab ich wirklich Glück, daß ich jetzt hier bin.“ Und schon auf dem Weg zur Bahnstation erzählte ich ihm, wo ich ausgestiegen war, und von der Begegnung mit den drei Jungs und dem Mäd­chen.

„Du bist zwei Stationen zu früh ausgestiegen. Verläßt du dich im­­mer auf dein Glück? Warum bist du mit den Banditen rausge­gangen?“

„Ich weiß nicht. Ich hab gedacht, wer sollte mir schon was tun.“

Er sah mich kurz aus sehr schwarzen Augen an:

 

„Wir haben jetzt wenig Zeit für solche alten Geschichten, aber meine Groß­mutter würde über deinem Kopf nach deinen Schutz­engeln suchen und sagen, sie sind sehr tüchtig.“

 

Alte Geschichten. Das Wort hatte sich in mir festgesetzt und zog Kreise, wie von einem Stein, der ins Wasser gefallen war. Wieso haben wir für alte Geschichten keine Zeit, wenn wir versu­chen, das Le­ben neu zu ordnen? Banditen – er hatte die vier Banditen genannt – das ist auch eine alte Geschichte, und es gibt sie immer noch. Jetzt, da so viele Jahre des Schwei­gens, des Verschweigens hinter uns lagen, mußten viele Geschichten neu erzählt wer­­den. Der erschossene Arbeiter, der auf einer Tür durch die Straßen der Stadt getra­gen wird, ist das nicht auch eine alte Geschichte? Und wie die Streiks im vorigen Jahr begonnen hatten, eine alte Ge­schichte, und wir selbst, die wir hier entlangliefen und mit einem Vorortzug nach Gdañsk fuhren, waren wir nicht vielleicht jetzt schon, mit unseren Hoffnungen und Illusionen, unseren Träu­men und Ängsten – alte Geschichten, denen morgen nur noch mit über­le­ge­nem Lächeln zugehört werden würde?

„Ach, das Denkmal vor der Leninwerft, ja, ich habe Fotos da­von gesehen.“ Nur mit hal­bem Ohr hatte ich seiner Rede zu­ge­hört, und war mir nun bewußt geworden, daß er davon schwär­m­te. „So ein Riesenturm aus Edelstahl, an dessen Spitze sich An­ker in den Him­mel recken, ich weiß nicht. Ihr liebt es, weil es ein Geschenk an die Regierung ist, das sie nicht mehr loswird. Aber reiht es sich nicht in die Türme ein und macht ihnen Kon­kurrenz, die dem Menschen von seiner Kleinheit künden? Kann so ein Mon­ster die Arbeiter in schlec­hteren Zeiten daran erin­nern, daß sie einmal Men­­schen wa­ren?“

 

„Dafür gibt es ja die Reliefs, die von unserer Geschichte erzäh­len, den Aufständen, Streiks, Demonstrationen, die niederge­schla­gen wurden, du siehst die Bullen mit Knüp­­­­­peln hinter den Arbei­tern herrennen, und dann die Streiks vom letz­­ten Jahr: der Elek­tri­ker Walensa auf den Schultern seiner Kollegen, die Ver­hand­­lun­gen mit der Re­gie­­­rung, das hochgehaltene unterschrie­bene Pro­tokoll.“

"Es gibt wohl Geschich­ten, die sich nicht gleich erzählen lassen. Wenn ich höre, was die Menschen selbst er­zäh­len, wenn ich die Be­rich­te von Arbeitern lese, wie der Streik begann, dann bin ich dabei, es berührt mich unmittelbar. Doch sind es vor allem die Ereig­nisse, die mich berühren. Wenn deren Erschüttre­rungen aber verklun­gen sind, muß es et­was anderes sein, was uns selbst dann berührt, wenn wir es nicht wollen, und selbst dort, wo wir es nicht wollen – dort, wo wir die Geheim­nisse unseres Lebens gut ver­wahrt glauben. Sag mal, du hast doch gute Verbindungen in die Werft, kannst du mir nicht helfen, hinein­zukommen?“

„Vor einem halben Jahr wäre das noch kein Problem gewesen, da gehörte die Werft den Arbeitern, aber jetzt ist das anders, die versuchen, alle ihre alten Regeln wieder durch­zu­setzen. Sie kon­trol­lieren wieder sehr genau, und Ausländer, die nicht mit Chauf­feur im Mercedes vorgefahren kommen und dicke Ge­schäf­te ver­­spre­chen, sind wie früher schlecht angesehen. Aber mir wird schon was einfallen.“

Unterdessen hatten wir mit dem Zug die Landschaft der Klein­gärten hinter uns gelas­sen, die seltsam zerrissen, unruhig, eben polnisch war, und doch gestutzt und nie­d­rig gehal­ten, und fuhren in die Stadt mit ihren alten stolzen Gebäuden und den recht­wink­li­gen Neubauten. Woytek mußte zur Universität, ich wollte eigene Wege gehen, wir verabredeten uns für den Abend in einem Café, doch fragte ich ihn noch, wo ich das Institut fände, in dem Jerzy Bulak arbeitete.

„Ich werde dich hinbringen, er kennt mich, und von dort es ist nicht weit zu meinem Institut.“

Im Souterrain eines grauen Gebäudes klopfte er an die Tür, ein ver­abredetes Zeichen. Nichts tat sich. Er klopfte noch einmal und wir warteten wieder eine Weile und wollten schon gehen, als von innen aufgeschlossen und die Tür geöffnet wurde. Ein asch­blon­der Mann Mitte dreißig in weißem Kittel schaute durch den Tür­spalt und fragte, was wir wollten. Woytek stellte mich etwas verle­gen vor, und fragte, ob ich mit Bulak spre­chen könne.

„Moment.“ Die Tür schloß sich wieder für eine Weile, dann wur­­­­de sie weiter geöffnet und ich reingewunken, und nachdem ich mich von Woytek verabschiedet hatte, stieg ich vier oder fünf Stu­fen hinunter und stand einem untersetzten, kurzhaarigen Mann in Jeans und Pullover ge­genüber, der mich aus hellblauen Augen an­starr­­te und die Hand, die ich ihm entge­gen­streckte, ignorierte. Zu­nächst irritiert, begriff ich doch schnell, daß hier eine Prü­fung über mich er­­ging. Wie lange wir uns so gegenseitig anstarrten, eine Minute oder mehr, weiß ich nicht, plötzlich belebte er sich und gab mir mit flüchtigem Lächeln die Hand, und ich konnte die Grüße von Frau M. ausrichten. 

„Seit wann besteht Solidarnosc im Untergrund?“ fragte ich.

„Seit den Unruhen von 1970, die blutig niedergeschlagen wor­den sind, haben wir die Not­wen­dig­keit einer solchen Orga­ni­sa­tion gesehen und mit dem Aufbau begonnen. Die Arbeit begann 1972 oder 73.“

„Warum führen Sie Solidarnosc im Untergrund jetzt noch wei­ter, liegt darin nicht die Ge­fahr einer Spaltung?“

„Wir haben lange darüber nachgedacht. Es ist allerdings so, daß die heute große Gewerkschaft ihre Arbeit auch im Unter­grund be­gann, wie Sie vielleicht wissen. Wir kom­men aus einem Stall und arbeiten auch weiter zusammen. Wir machen ihr ja keine Kon­kurrenz, treten nicht mit anderem Programm an oder so etwas. Nur, wenn sich die Hoffnungen auf eine ungestörte Fortsetzung ihrer Arbeit – ungestört nur nach unseren Maß­stäben – nicht erfüllen und sie mit Gewalt zerschlagen wird, gibt es Strukturen und Kräfte, auf die wir sofort zurück­grei­fen kön­nen. Verstehen Sie, wir sehen uns als eine Art Brücke. In einem solchen Fall, der, ich weiß nicht, ob Sie mir da wider­sprechen wollen, nach unserer Auffassung sehr wahr­scheinlich ist, werden diejenigen, die jetzt bekannt und charismatisch sein müs­sen, um erfolgreich zu sein, sofort verhaf­tet, interniert, wenn nicht sogar liquidiert werden. Ihre Arbeit muß von Men­schen fortgesetzt werden, die denselben Geist haben, aber der Po­li­zei unbekannt sind und un­auf­fällig agieren. Darin haben wir große Erfahrung. Wir haben die jetzigen Führer teil­weise beschützt, teilweise beraten, Bezie­hun­gen auf­recht erhalten oder geknüpft, Zeitungen herausgegeben, gedruckt und ver­teilt, über immerhin fast zehn Jahre. Eine Zeitung, der ‘Robotnik’, ist statt ihrer Her­aus­geber berühmt geworden.“ 

 

„Ich soll und will auch fragen, was mit Anna Walentinowicz geschehen ist, warum sie weder in der Öffentlichkeit, noch bei in­ter­nen Zusammenkünften neben Walensa und den ande­ren zu sehen ist.“

 

Für eine Weile schaute er aus dem geriffelten Souterrainfenster.

„Das ist nicht so einfach zu erklären. Ich kenne Frau Walen­tinowicz schon lange, länger als Walensa. Sie war immer eine star­ke und mutige Frau, und ohne sie wären wir heute nicht da, wo wir sind. Vielleicht hat es sie zu viel Kraft gekostet, ich weiß es nicht. Es gibt Stimmen, die sagen, sie wäre das Opfer von Intrigen oder Macht­­kämpfen. Ich kann das aus meiner Erfahrung nicht bestätigen. Ge­wiß gibt es immer wieder persönliche Em­pfind­­lich­keiten, Mißverständnisse, Meinungs­verschie­den­­heiten, das war auch schon früher nicht anders und hat die Arbeit eher be­fruchtet. Unbequem war sie immer. Doch ich muß auf­richtig sa­gen, daß ich sie ab einem bestimmten Zeitpunkt auch nicht mehr verstan­den habe. Sie machte immer öfter dunkle Andeutungen, sprach nicht mehr offen mit uns, war einfach nicht mehr der Mensch, den wir kannten. Manchmal denke ich, der Druck hat zu plötzlich nachgelassen. Ich hoffe, daß wir sie bald wiedersehen werden.“

„Ist sie verreist?“

„Vielleicht ist das nicht ganz der richtige Ausdruck, sie ist zur Zeit in einer Klinik, bei unseren Ärzten selbstverständlich. Es ist keine geschlossene Anstalt, eher ein Sanato­rium, wo sie sich ausruhen kann.“

Es verstand sich von selbst selbt, daß ich von ihm kein Foto machte, mit kräftigem Händedruck wurde ich verabschiedet, die Tür hinter mir wieder sorgfältig verschlos­sen. Draußen war es noch immer hell und kalt, leichte Wolkenschleier zogen langsam über den Himmel. Ein wenig ziellos lief ich umher, sah mir die Hafen­anlage an, alte, stillgelegte Kräne und neue, die ebenfalls nicht arbeiteten, stand unversehens vor dem Haupttor der Lenin­werft, sah Ar­bei­ter in Gruppen hinausgehen, Frauen, die im Ein­gang warteten, Kinder, die auf ihre Väter zuliefen. Es war Schicht­wechsel, die Mit­tags­schicht hatte gerade begonnen. Nicht weit entfernt sah ich auch das Monument aus Edel­stahl in der Sonne schimmern. An seinem Fuß lag ein Berg von Kränzen, auch ganz neuen. Men­schen standen herum und sprachen mit­einander. 

Von hier aus fuhr ich in die In­nen­­stadt zum Solidarnosc- Hauptquartier. Es lag in einer Seitenstraße in einem drei­­­stöcki­gen Gebäude, an dessen Eingangstüren große Plakaten mit dem berühmten Schriftzug klebten. Eine Frau mit Einkaufs­tasche und einer billigen Strickmütze auf dem Kopf ging vor mir hinein. Ich suchte nach der Dokumentations­abteilung. Sie war im dritten Stock. Jemand, den ich gefragt hatte, brachte mich hinauf, klopfte an und schob mich durch die Tür. An einem kleinen Tisch saß eine Frau Ende Dreißig, die mich bat zu warten, es sei eben jemand bei ihr, womit sie auf die ältere, sehr kleine und schüch­terne Frau ihr gegenüber wies. Da es im Flur kalt war, sollte ich mir einen Stuhl neh­men und im Zimmer warten. Sie wandte sich der kleinen Frau wieder zu, schrieb ab und zu etwas auf, während sie sehr aufmerksam zuhörte, was die andere mit leiser Stimme sagte. Nach geraumer Weile stand die kleine Frau auf und verab­schiedete sich mit Verbeu­gungen, Dankesbezeugungen und ver­suchte die Hand der Jüngeren zu küs­sen, die sie ihr jedoch entzog.

„Das ist zurzeit eine unserer Hauptbeschäftigungen.“ sagte Alina mit leicht geröteten Wan­­­­gen, nachdem wir uns begrüßt hat­ten. „Diese Frau erzählte, daß ihr ältester Sohn 1970 schwer ver­letzt wurde und kaum noch arbeiten kann, aber keine Rente bekommt, weil er als Staatsfeind galt, was schlimmer war, als Ban­dit zu sein. Sie hat natürlich kei­ne Dokumente, wie ihr Sohn ver­letzt wurde. Wir müssen nun mühsam recher­chie­ren, was ohne Unterstützung von Staats­­anwälten, die mit uns zusam­men­ar­bei­ten, unmöglich wäre. In einigen Fällen ist es uns sogar gelungen, Poli­zei­akten einzusehen. Wie mühsam das alles ist! Viele kom­men auch einfach nur zu uns, um ihre Geschichte zu erzählen, die sie oft nicht mal ihren Nach­barn anzuvertrauen wagten. Sie soll nicht verloren gehen, sagen sie. Dann schalte ich das Ton­band an, neh­­me alles auf, und später wird es abge­schrieben. Wir arbeiten an einem großen Archiv, siehst du, die Schränke hier sind voll. Wir haben auch ein Fotoarchiv, aus dem übrigens die Fotos stam­men, die du in Kraków gesehen hast.“

Von meinen Besuch in der Ausstellung hatte ich ihr erzählt. Sie hatte intensive Augen, eines jener Gesichter, die so viel innere Weite ausdrücken, daß ihr Gegenüber wie von selbst zu sprechen beginnt, vielleicht einfach, um sich in ihr nicht zu verlieren.

Es klopfte, und ein kleiner älterer Mann mit Schiebermütze auf dem Kopf und kurzem Mantel trat ein. Sie begrüßten sich sehr freundschaftlich, offensichtlich ein alter Be­kann­ter.

 

„Darf ich euch miteinander bekannt machen? Ein Kollege von dir, wenn ich das so sagen darf. Er hat das Foto gemacht, über das du eben gesprochen hast.“

 

Begeistert schüttelte ich ihm die Hand und stammelte Lobes­worte, doch freundlich bescheiden wehrte er ab:

„Ich habe doch gar nichts Besonderes getan. An jenem Tag gab es Aufläufe, wir hörten immer wieder Schüsse, rochen Trä­nen­gas, und irgendwann nachmittags, meine Frau war gerade bei einer Nachbarin, hörte ich plötz­lich Rufe auf der Straße und ging zum Fenster, da sah ich die Leute mit der Tür und dem Toten darauf und habe ganz auto­matisch zur Kamera gegriffen, die im Regal lag. Ich habe gar nicht nachgedacht. Und dann waren sie auch schon vorbei.“

„Und was haben Sie danach gemacht?“

„Danach? Ja, ich bin hinuntergegangen, habe aber kein Foto mehr gemacht. Ich glaube, ich habe die Kamera gar nicht mit­ge­nommen. Dann hatte ich das Foto vergessen. Nicht, was ge­schehen war, aber an das Foto dachte ich überhaupt nicht mehr. Irgend­wann gab ich den Film zum Entwickeln, und als ich ihn wieder abholte, sah mich der Apo­theker so komisch an, winkte mich nach hinten und zeigte mir das Bild. Zuerst war ich er­schrocken, und der Apotheker, der meinte, das sei seinetwegen, beru­higte mich. Wir kannten uns ja schon lange.“

Mit einer Bescheidenheit, die voller Wärme und Würde war, verabschiedete er sich wie­der, er hatte Alina nur eben Guten Tag sagen wollen.

Nicht viel später klopfte es wieder, und ein junges, hübsches Paar kam herein, blieb aber in der Nähe der Tür stehen. Der Jun­ge hatte seine langen blonden Haare zu Zöp­fen ge­floch­ten, das Mädchen sah sich mit großen Augen vorsichtig um.

„Wir sind aus Deutschland“, sagten sie und schwiegen, als wür­de das allein schon ge­nug erklären.

„Nun, und was wollen Sie? Das hier ist die Abteilung für Doku­men­tation.“

„Wir möchten – Plakate. Ein paar Plakate.“

„Was für Plakate?“

„Solche wie dieses, oder das hier, wenn das möglich ist. Viel­leicht können wir welche kaufen“, fügte er hinzu und ließ die Finger­nägel der linken Rückhand über das Papier eines der Pla­kate trom­meln, die an der Wand hingen.

„Das wird schon möglich sein“, sagte Alina und schickte sie in ein anderes Zimmer. Eine Weile saß ich noch bei ihr, dann verab­schie­deten wir uns voneinander.

„Alles Gute für eure Arbeit, für Polen.“

„Danke. Für dich auch. Gute Reise, und komm wieder vorbei.“

 

Ein rosa Abendhimmel empfing mich, dunkler werdende und wie Schatten höher wach­sende Haus­­mauern. Ging an Schau­fen­ster entlang, in denen das Wenige, das es zu kaufen gab, mühe­voll aufgestapelt war, fand Woytek im Café über Papiere gebeugt und fuhr mit ihm hinaus zu seiner Wohnung.

Am nächsten Tag brachte er mich zu einer Fertigungshalle au­ßer­halb der eigentlichen Werft, in der er den Abteilungsleiter kannte und verließ mich dort. Mehrere Stunden blieb ich und konn­te ungehindert fotografieren. Was mich schon lange be­schäf­­tigte, am An­fang meiner Entdeckung sogar faszinierte, war die Viel­­falt der Formen, des Aus­drucks, zu der die scheinbar uni­for­me Arbeitskleidung fähig war. Eine simple Kopfbe­deckung bei­spiels­­weise, irgendein Deckel, eine Kappe, eine Wollmütze, ein kleiner Hut, ein Käppi und die Art der Faltung, die von nie­mandem abgeschaut, sich über Jahre her­ausgeformt hatte, konnte zu einer Art zweitem Gesicht werden und über den Cha­rak­ter, die Per­sön­­lich­keit seines Trägers zuverlässig Auskunft geben. Ebenso wie eine un­ter der Jacke getragene Strick­jacke, der breit hervor­ste­hende Kra­­gen eines karierten Fla­nel­l­hemdes, aufge­krem­­­pelte Är­mel, ein breiter Gürtel mit Schnalle oder statt­­des­sen ein einfacher Strick. Alles Zeichen, Merkmale von Individualität, die sich hier in den Fa­bri­ken her­vor­wag­ten, jedoch unter den jeweiligen Diktaten der Freizeitmode ver­schwan­den, so­bald die Arbeiter die Umklei­de­kabine der Fabrik verließen.

 

Von hier aus fuhr ich zum Bahnhof, um bei der Auskunft die geplante Strecke meiner Rückreise zu über­prüfen. Ging auf den Tun­­nel einer Straßenunterführung zu, und sah dort eine alte Frau auf den Steinstufen sitzen, die ich hinunterging, einen Krückstock neben sich und eine kleine magere, bläulich-braune und runzlige Hand ausgestreckt, den an ihr vorbeihastenden Beinen entgegen. Ihr in schwarzes Tuch gehüllter Kopf nickte vor sich hin, als zähle sie leise mit, während sie erwar­tungs­voll zu den ihr Entgegenkommenden aufsah. Und es hastete vorbei. Ein paar junge Kerle lach­ten, als sie die Bettlerin sahen, die ihre Groß­mutter niemals hätte sein dürfen, ein Mann schlepp­te eine große Tasche wie eine Beute vorbei, Frauen in Stie­felchen, Täschchen schwen­kend… Und das Stimmengewirr um mich herum war nicht mehr polnisch, es war babylonisch, und ich war auch nicht mehr in Gdañsk, ich war irgendwo oder in der Kurfürstenstraße in Westberlin und sah den Alten mit seinen zwei Krücken neben sich und seiner Tasche und seiner Pelzmütze auf dem Kopf und einem Plastikteller in der Hand im Schneematsch am U-Bahn­eingang hocken und auf die Beine starren, die an ihm vorüber ­flim­mer­ten. Alles verlor seinen Sinn. Daß es viertel vor drei war, daß diese Stadt Gdañsk hieß, daß ich Geldscheine aus der Tasche kramte und der Frau in die blau­gefrorene Hand drückte – ohne Sinn. Ich war schon halb auf dem Bahnhof, als mich ein Zorn packte und wieder zu­rücktrieb. Hier ihre Geschichte, die sie mir nach und nach erzählte:

„Ich bin schon siebzig, Rente bekomme ich keine, eine Woh­nung habe ich auch nicht. Im Krieg habe ich in Deutschland gear­beitet, und dann war ich immer in Stellung, bei Leuten, hab nie in der Fabrik gearbeitet. Zwei Jahre haben sie mich eingesperrt, weil ich gesagt hab, Gierek ist ein Gauner und ein Lump. Vor einem Jahr ungefähr haben sie mich rausgelassen. Eineinhalb Jahre war ich im Gefängnis und ein halbes Jahr vielleicht in der Irrenanstalt. Fünfzehn Jahre wollten sie mir geben, aber ich hatte einen guten Advokaten. Nicht für Geld, ich hatte ja keins. Ich hab gesagt: ‘Ich bin nicht verrückt, das ist nur die Wahrheit, was ich gesagt habe’. Da haben sie mich rausgelassen.“

An einem Tag bekommt sie hundert Złoty, im Sommer mehr. In Kaufkraft umgerechnet sind das fünf Mark.

„Manche geben zwei Złoty, manche fünfzig Groszy, manche spuc­­ken in die Hand.“ Sie weinte. „Manche sagen ‘geh arbeiten’, manche ‘du kriegst doch Rente’.“

Sie ging nicht jeden Tag betteln. „Wenn es zu kalt ist, geh ich ins Kino, zahle ein paar Złoty, hab es schön warm und sehe, was in der Welt ist. Uns interessiert ja auch, was draußen in der Welt passiert.“ Plötzlich fragte sie mich:

„Kommen die Deutschen?“ Und als ich nicht antwortete: „Ich glaube daran.“

„Dort gibt es auch Bettler.“

„Was, auch Bettler? Das glaube ich nicht.“

Ich beschrieb ihr jeden, den ich kannte. Sie war erschüttert, ich hatte ihr einen schönen Traum gestohlen. Doch gleich darauf sagte sie, vernünftig resigniert:

„Es ist eben überall gleich schlecht.“ Von der Miliz wurde sie in Ruhe gelassen.

„Früher haben sie öfter mal die Bettler eingesammelt, Geld ab­ge­­nommen und sie vor die Stadt gefahren. Jetzt ist es schon bes­ser, die haben jetzt Angst, die Leute wissen näm­lich schon mehr be­scheid. Bald ist Sommer, da ziehe ich mit anderen in Zelten um­her. Ich würde gern in ein Altersheim gehen, aber es gibt keinen Platz. Wir sind mehrere hier ohne Wohnung. Sehen Sie dort, diese Frau dort, die arbeitet in Stellung, für fünfzig Złoty den halben Tag, dazu bekommt sie noch Essen und Kleidung – was die Herrschaften nicht mehr tragen. Sie hat auch keine Wohnung. Nachts sind hier die Hälfte von uns, die keine Bleibe haben.“

Ich küßte ihre kleine, vor Kälte starre Hand zum Abschied.

Der Bahnhof voller Menschen, in der Auskunft bekam ich die ge­nau­­en Zeiten für mei­ne Strecke bis zur Grenze, danach fuhr ich mit der Straßenbahn in einen Vorort mit nied­­ri­gen Häusern, die zum Teil ver­fielen, stieg aus und ging eine gerade, kaum beleb­te Stra­­ße entlang, auf der mir auf weite Entfernung sichtbar, zwei Bau­ar­beiter entge­gen­­kamen, Hände in den Taschen, mit ruhigem Gang. Als sie unmit­tel­­bar vor mir wa­ren, machte ich ein Foto, mit den Häusern hinter ihnen und weitgespanntem Himmel über uns. Drehte mich noch einmal um und sah ihnen nach, da bemerkte ich eine seltsame Figur, einen Zwerg, der eben noch in meine Richtung Ausschau gehalten hatte, und nun hinter einer Hausecke verschwunden war. Die Augen aus Zinn. Auch ich versteckte mich, war­tete eine Minute und trat hervor. Da spähte er doch tatsächlich um die Ecke. Ertappt zog er hastig den Schädel zurück. Was für ein häßlicher Zwerg! Spär­liche rötliche Haarsträhnen standen auf seiner Glatze, die stopp­lige Visage wie einge­treten, Glupschaugen, der Mund ein formloses Loch. Em­pört lief ich zurück, bog um die Ecke und hätte ihn beinah überrannt. Packte ihn an den Rockaufschlägen, schüttelte ihn und schrie ihn an:

„Du elender Wicht, wenn du mir noch weiter nachschnüffelst, werfe ich dich in den nächsten Kanal!“ Spürte seine Zähigkeit, der war Prügel gewohnt, zog nur den Schädel ein. Als ich ihn losließ, blieb er einfach stehen und glotzte. Klar, für solch eine Situ­ation gab es keine Dienstanweisung. Beugte mich zu ihm, nahm ihn bei den Schultern und sagte, jedes Wort betonend: „Du gehst jetzt nach Hause.“ Drehte ihn um und stieß ihn sachte in die Richtung, aus der wir gekommen waren. Er wandte noch mal den Kopf, ich nickte und winkte ihm, weiterzugehen. Langsam setzte er sich in Bewe­gung, ich sah die faltige Glatze, den strähnigen Kranz rötlicher Haare über dem Kragen seines zu kurzen ausgebeulten Jacketts, sei­nen unsicheren Gang, und wartete, bis er endlich ver­schwun­­den war. Wo war der bloß hergekommen? Sie mußten am Bahn­hof auf mich gewartet haben. Wie konnten sie mir den als Schat­ten hinter­her­schicken, unglaublich! Doch bei ruhiger Über­legung war das nicht ganz so unsinnig, wie es mir zuerst schien. Im Gewimmel der Innestadt war der leicht zu übersehen. Über­sehen zu werden war schließlich sein Leben, sein Schicksal. Nur hier draußen, in ver­gleichs­weise offenem Gelände war er plötz­lich allzu sichtbar geworden.

Fand einen Bus, der ins Zentrum fuhr, traf Woytek im Café über Papiere gebeugt, fuhr mit ihm in seine Wohnung, sagte ihm, daß ich mit dem Nachtzug fahren würde, dankte ihm, verab­schiedete mich, nahm meinen Koffer und fuhr zum Bahnhof. Saß zwischen anderen Reisenden im Wartesaal, mir schräg gegenüber eine junge Frau, die unablässig, Zeile um Zeile lächelnd in ein dickes Heft schrieb. Muß­te sie immer wieder ansehen, nicht ohne Neid. Schreiben. Schreiben können, ohne immer wieder innezuhalten und nach Worten zu suchen, ohne Zögern und lange Pausen. Aber was schrieb sie da? Einen Brief? Das würde ihr Lächeln erklären. Doch niemand schreibt so lange Briefe. Ein Buch? Aber so schnell, und woher dann das Lächeln? Es wich nicht von ihrem Gesicht, veränderte sich nur ständig. Ein Tagebuch, das Tagebuch einer Liebe? Das konnte ich mir nicht vorstellen, da wäre doch eher Besinnung, Nachdenken nötig, dieses besondere Träumen, mit dem ein Gesicht herauf­beschwo­ren und immer wieder befragt wird. Schräg hinter ihr, in einem angrenzenden Raum, sah ich eine seltsame Gestalt schla­fend auf der Bank sitzen, den Kopf in beide Hände gestützt, die Ellen­bo­gen auf die Knie, eine alte Mütze mit hoch­ge­bun­denen Ohren­klappen auf dem Kopf. Er sah ziemlich abgerissen aus, die Haut frostverbrannt und mit dunklen Schmutzpartien bedeckt. Die im Schlaf trotzig vor­­ge­­scho­­benen Lippen, seine ganze Haltung ver­lie­hen ihm etwas Stolzes und Un­nah­bares. Er hatte nichts Kind­liches an sich, doch wenn ich lange genug hinsah, schien unter der ab­wei­senden Schmutzschicht und den frostgebrannten Haut­partien das Gesicht eines Kin­des hervor, das sich in eine unab­wend­­bare Einsamkeit gefügt hatte.

 

Ich hörte genau auf die scheppernden Ansagen, wann und von welchem Bahnsteig die Züge fuhren, nahm erst in letzter Minute meinen Koffer fest in die Hand und ging ohne zu zögern und ohne mich noch einmal umzusehen zum bezeichneten Bahn­steig, stieg in den ersten Waggon, jetzt erst einen kurzen Blick hinter mich werfend, suchte ein freies Abteil mit Sitzplätzen zum Perron, löschte das Licht, zog die Gardine vor das Fenster und spähte durch einen Spalt hinaus. Nie­mand Verdächtiges war zu sehen, auch nicht, als der Zug im nächsten Moment anfuhr. Vor­sichtshalber, um Nach­fra­­gen­den kein Ziel anzugeben, hatte ich keine Fahrkarte gekauft, ich würde sie im Zug nach­lösen. Im Gang tat sich auch nichts, ich schloß die Tür, auch hier die Gar­dine vor­zie­hend und streckte mich auf der Bank aus, mich alsbald wieder aufsetzend. Draußen flogen immer schneller gelbe Lichter vorbei. 

Solidarność - die wichtigsten Daten
auf MDR Zeitreise


Adam Zagajewski auf lyrikline

und auf Wikipedia.

Czeslaw Milosz: Gedichte

Adam Zagajewski hat aus dem Werk des 1980 mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichneten Autors rund hundert Gedichte ausgewählt und in seinem Nachwort dessen Biografie nachgezeichnet.


Czesław Miłosz auf planetlyrik

Mit einem Nachwort von Aleksander Fiut und einem Interview von Fritz J. Raddatz

 

WIE VIELE HERRLICHE VORSÄTZE

Wie viele herrliche Vorsätze, Spiele und Listen gab es,

Als uns, meine Freunde,

Die Wolken, die waldesrühmlichen Statuen

Und über der schmalen Straße die Johannisadler-Engel beschützten.

Ihr solltet verlieren und wußtet es nicht.

Ihr solltet verlieren und ich habe es gewußt,

Ohne die Mitwisserschaft, die vergebliche, euch oder mir zu bekennen.

Nun ist es vollbracht. Der Wind spielt mit Schatten von Namen,

Bis die Schneestille folgt auf die Dynastie.

Wer Verstand besaß, wählte Doktrinen,

In denen der teuflische Moder, flimmernd, geleuchtet hatte.

Wer Herz besaß, ließ sich zur Nächstenliebe verführen.

Wer Schönheit wollte, diente dem Stein auf dem Stein.

So zahlte unser Jahrhundert heim

Denen, die seiner Verzweiflung und seiner Hoffnung vertrauten.

Und was hat Gewinn bedeutet? Mitten im Wort zu verstummen,

Den Schrei zu vernehmen, der Lüge zu huldigen, weil die Wahrheit gefallen war,

Kumpanei zu heucheln, an Gräbern vorbei,

Und sich zu den Auserwählten zählend,

Mit ganzem Körper die Scham

Zu empfinden.


Am Tag des Weltendes

Summt um die Kapuzinerkresse eine Biene,

Flickt der Fischer das glitzernde Netz,

Springen im Meer die lustigen Delphine,

Junge Sperlinge krallen sich an der Rinne fest,

Und die Haut der Schlange ist golden, wie sich das gehört.

[…]

Nur der grauhaarige Greis, der ein Prophet sein könnte,

Doch er ist keiner, denn er hat anderes zu tun,

Sagt beim Anbinden der Tomaten:

Es gibt kein anderes Ende,

Es gibt kein anderes Ende


Das Erbe der Solidarność 

Ein sehr lesenswerter Essay aus dem Jahr 2005 von Adam Michnik auf Perlentaucher.


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