Interview mit mir selbst
B: Du hast in bewegten Worten die Schwierigkeiten des Aufbruchs geschildert, wenn das zivilisierte Leben in ausreichenden Mengen einen Stoff abgesondert hat, der wie Leim an den Schuhsohlen haftet.
BM: Wie in gewissen Träumen. Du gehst, kommst aber keinen Schritt voran. Darüber hinaus wird dieser Leim oft genug als Honig angesehen. Aber das ist allzu bekannt, ich seh schon Dein Abwinken.
B: Was mich interessiert, ist das Zurückkommen, davon hört man gewöhnlich wenig. Wie war das bei Dir?
BM: Jedes Mal schwieriger. Und umso schwieriger, je länger ich in den anderen Welten gewesen war.
Es gibt die Schilderung von einer deutschen Expedition zum Kilimandscharo, wo die Träger, selbstverständlich alles Schwarze, sich plötzlich, den damals noch völlig schneebedeckten Gipfel schon im Blick, niedersetzten und nicht mehr weiter gingen. Keine Drohungen, keine Züchtigungen halfen. Endlich kam jemand auf die Idee, sie nach ihren Gründen zu fragen, und die Antwort lautete: wir sind schnell und weit gegangen und müssen nun auf das Eintreffen unsere Seelen warten. Je länger eine Reise dauert, je intensiver du in die andere Welt eintauchst, umso länger musst du warten, bis du wieder vollzählig bist. Zumal in unseren wahnsinnig beschleunigten Zeiten gleicht Rückkehr immer mehr einem Rücksturz.
B: Rücksturz zur Erde aus den Weiten des Alls?
BM: Eher Rücksturz ins Platte aus der Weite. Auf Beton und Asphalt.
B: Das erinnert an die »Briefe des Zurückgekehrten« von Hugo von Hoffmannsthal.
BM: Nach meiner Erfahrung ist Aufbruch, verglichen mit der Rückkehr, eher leicht.
B: Vermutlich siehst du das von der letzten Rückkehr, nach deiner Begegnung mit den Tigermännern in den Bergen Meghalayas, perspektivisch etwas verzerrt.
BM: Vermutlich. Dennoch war sie extrem schwierig, geradezu dramatisch und fühlte sich zuweilen wie Sterben, oder eher tot sein an. Was ich nicht wusste: warten allein reicht nicht. Es braucht eine besondere Art von Geduld, einer Geduld, die ohne jedes Zeichen von Besserung auskommt. Die Seele kommt tröpfchenweise. Eines Abends fühlst du dich besser, doch in der Nacht wachst du auf und bist ein kleines schwarzes Bündel aus Angst, zitternd in einer Ecke. Bei Ingmar Bergmann fand ich den recht passenden Ausdruck »mentale Diarrhö«. Ohne das, was wir in überkommener Weise Seele nennen, sind wir nichts. Angst vorm Sterben kenne ich nicht oder ich ignorierte sie, aber sich bei Lebzeiten tot zu fühlen, ist reines Entsetzen.
B: Was hast du gemacht?
BM: Ich hatte Freunde, bin zu ihnen in die Bar gegangen, hab mich still hingesetzt und langsam ein Glas Wein getrunken, das mir jemand wortlos hingestellt hatte. Auch ich musste Zeit verstreichen lassen. Sehr viel Zeit. Sprechen hilft dann noch nicht. Du erwähntest die Tigermänner, unter denen übrigens auch eine Frau war. Siehst du, das ist eines der Probleme, denen man sich gegenüber sieht. Wenn ich die Wahl hätte, von ihnen oder von den Nöten des Zurückgekehrten zu hören, was glaubst du, würde ich vorziehen?
B: Du hattest einen zurückgekehrten Reisenden zum Freund und hast dich sehr wohl für seine Nöte interessiert.
BM: Er war ein Dichter, das ist etwas anderes.
B: Unsinn. Rückkehr ist zunächst einmal unvermeidlich, in zweifacher Hinsicht. Unerwünscht, doch nicht zu vermeiden und unvermeidlich, weil sinnvoll. Aufbruch ohne Rückkehr wird leicht zu leerer Bewegung, zu einem Schnörkel im Raum, der niemandem, dem so geziert Umherirrenden am allerwenigsten, etwas sagt. Alles braucht Vermittlung.
BM: Und mit jeder Vermittlung geht die ursprüngliche Verbindung verloren, die wir doch mit jedem Aufbruch wieder herzustellen suchen.
B: Eine Frage der Balance, nicht wahr?
BM: Balancier mal das Tablett auf schlingerndem Schiff. Da du Hoffmannsthal erwähntest: ich hab vieles aus den »Briefen des Zurückgekehrten« in meinen Erfahrungen wiedergefunden. Dann gibt es da noch die kurze und drastische Schilderung von Tobias Schneebaum, einem nahezu vergessenen Vorfahrenden, der nach über einem Jahr intensiver Erfahrungen und Begegnungen mit Indios im Urwald von Peru nach New York zurückkommt und zunächst bei seinem Bruder in einem Hightech- Alptraum wohnt. Der arbeitete ausgerechnet bei der NASA. »Ich war darauf nicht vorbereitet«, lautet sein schlichtes Resümee. Dabei vergisst er doch nie und erwähnt es immer wieder, wie das Leben, das seine Freunde im Urwald wie seit Jahrtausenden führen, ihre gesamte Kultur, die sie von Generation zu Generation weiter getragen haben, innerhalb Jahrzehnten zerstört wurde und schließlich verschwand. In Wahrheit ist niemand darauf vorbereitet, dass sein Leben wie ein Teppich unter den Füßen weggezogen, eingerollt und weggetragen wird und doch geschieht es allenthalben. Das Leben ist ausgezogen, doch sie sagen, es ist fortgeschritten.
B: »Es weht ein Wind vom Paradiese her…« wie es im »Angelus Novus« von Walter Benjamin heißt.
B: Ein Beispiel dafür, wie sich eine Kultur, auch durch äußeren Druck, von innen auflöst.
BM: Richtig, wir müssen genau sein. Erosion dauert länger und ist deshalb vergleichsweise sanft. Gleichzeitig findet aber auch sofortige und gewaltsame Zerstörung statt. Ich denke, dass die Zerstörung von menschlichen Kulturen mit der Zerstörung der Biosphäre endlich zusammen gesehen und als Gesamtgeschehen gewertet werden sehen muß. Genauso wie der Holocaust in ethischer, politischer und kultureller Hinsicht nicht nur die Juden betrifft. Wir sind alle in Gefahr.
B: Du wirst dich an die Ausstellung über jüdisches Leben in Osteuropa vor der Vernichtung erinnern, die wir gemeinsam im Wedding Anfang der neunziger Jahre gesehen haben. Wir sind eigentlich hingefahren, um im dortigen Archiv Fotos zum Ankauf anzubieten, dann sahen wir diese Ausstellung mit Texten und recht kleinen Fotos und du hast in der eher ethnologischen Auswahl sofort auf einen besonderen Fotografen hingewiesen.
BM: Das war wirklich eine Entdeckung, eine Begegnung über die Zeit hinweg. Die meisten Fotos dieser Ausstellung waren wie aus Familienalben. Etwas gestelzt, arrangiert, zuweilen pompös. Ganz dem Geschmack der Zeit entsprechend und auf diese vertrackte Weise bildeten sie auch Angst ab. Die Fotos jedoch, die mich magisch in das entschwundene Leben hineinzogen, waren alle von einem Fotografen, wie ich zunächst erriet, und dann bestätigt fand und dessen Namen ich mir merkte: Roman Vishniac. Die großen Ausstellungen, die sein Lebenswerk zeigten, kamen dann Jahre später. Das schier unbegreifliche an ihm war, dass er wusste, was mit den Menschen, die er so liebevoll auf seine Filme und in sein Gedächtnis bannte, dass er genau wusste, was mit ihnen geschehen würde.
B: Genau deshalb war er dort.
BM: Ich mag die Geschichten, wie er im Mondlicht seine Filme entwickelte und im eisigen Wasser eines Baches wässerte, diese Verrichtungen geben ihm Erdung.
B: Du warst bei den Tsiganis in Rumänien. Manche sagen, du hättest dort deine besten Fotos gemacht.
BM: Sie sind nur einfacher zu nehmen. Aber ich hatte auch Glück, es war Winter und das Licht zeichnete alles in besonderer Weise. Milchlicht und starke Kontraste, du fühlst etwas davon, was ihre Musik über die Jahrhunderte hinweg transportiert. Winter ist für mich ein Schlaf, in dem wir dem Tieferem in uns begegnen. Ihre Musik ist wie ein Weckruf, der uns tanzen macht und verwandelt.
B: Wir haben getanzt wie die Zigeuner.
BM: Und wie sie getrunken, wenn ich das in diesem ernsthaften Interview mal sagen darf. Mich hatten sie lange vorher schon beschäftigt, oft hörte ich ihre Musik, und eines Tages war es einfach an der Zeit, sie auch wirklich kennenzulernen. Übrigens hatte ich doch einen unerwarteten Erfolg mit den Fotos.
B. Ganz unerwartet?
BM: Ja, völlig unerwartet. Ich hatte sie in Porto ausgestellt, und Monate später sitzt mir in einem Café eine junge Frau gegenüber, die etwas seltsam entrückt wirkte. Ich war mit jemand anderem im Gespräch, als sie unvermittelt erwachend zu mir sagte:
»Ach du bist das«
»Was, wer war oder bin ich?«
B: Typisch.
BM: Ich war verwirrt, ich kannte sie gar nicht.
»Du bist doch der Fotograf, der die Fotos von den Gypsies gemacht hat? Ich habe sie gesehen und bin sofort nach Rumänien gereist.«
B: Das war gelungen.
BM: Ich verstand nun ihre Entrücktheit, fragte aber nicht weiter. Offensichtlich war sie noch nicht ganz zurückgekehrt..
BM: Ich wüsste gern, wie es jetzt in Meghalaya, in den Dörfern der Tigermänner aussieht.
B: Ich auch. Warum fährst du nicht hin und schaust nach?
BM: Wenn du mir die nötigen Mittel beschaffst.
B: Ich danke für das Gespräch.
BM: Es war mir wie immer ein Vergnügen.
Zum Weiterlesen
Besonders empfehle ich Tobias Schneebaums unvergleichliches Buch Der Fluss zu deiner Rechten
. . .um ihn herum weht „ein Atem nicht des Todes, sondern des Nicht-Lebens“[4]. Ihm graut. Er möchte „fort aus Europa und zurück nach den fernen guten Ländern“ Erster Brief
„Warum sollten nicht die Farben Brüder der Schmerzen sein, da diese wie jene uns ins Ewige ziehen?“ Hugo von Hoffmannsthal, Briefe des Zurückgekehrten, Fünfter Brief
Tigermann DJoit Makri, Meghalaya 1997
Angelus Novus, aquarellierte Zeichnung von Paul Klee
Es gibt ein Bild von Klee, das Angelus Novus heißt. Ein Engel ist darauf dargestellt, der aussieht, als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt. Seine Augen sind aufgerissen, sein Mund steht offen und seine Flügel sind ausgespannt. Der Engel der Geschichte muß so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, daß der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmer-haufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm. Walter Benjamin,
Über den Begriff der Geschichte
Zwei Artikel in The Shillong Times über Tigermänner in dieser Region:
Im Dorf der Tigermemenschen, Meghalay 1997
Demnächst mehr über Tigermenschen, ihr Leben in zwei Welten und ihre soziale Funktion, sowie Meghaya, eine der wenigen matrilinearen Gesellschaften.
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