Dem anschließenden Bericht voraus möchte ich von einer Begegnung erzählen, die an einem völlig anderen Ort stattfand, doch von so tief greifender, initiierender Bedeutung war, dass sich mir ihre ganze Tragweite erst jetzt, so viele Jahre später, zu erschließen beginnt. Der Bus, den ich einen Tag zuvor noch als Ruine, verformt von einem Sturz aus größerer Höhe gesehen hatte, bewegte sich gleichmäßig brummend durch die Nacht, durch enge Kurven schlitternd, seit vielen Stunden Steigung um Steigung nehmend. In einer abgeteilten Kabine saß der Fahrer, ein bäriger und bärtiger Typ aus den Bergen, umgeben von jungen Männern, die lauthals die Lieder ihres Landes sangen, die zu uns nur gedämpft drangen. Auch er sang, mit weit ausholenden Armbewegungen den Takt schwingend, gelegentlich das Steuerrad loslassend, um schwungvoll darauf einzuschlagen. Nach Mitternacht hielt der Bus in einem kleinen Ort, an dem wir übernachten würden, eine Holzbaracke mit grob gezimmerten Tischen und Bänken diente als Restaurant, erleuchtet von zwei Gaslampen. Ich aß eine warme Suppe und trat hinaus in die Nacht. Der Ort lag völlig im Dunkel, beiderseits der Straße ahnte ich mehr, als ich sie sah die massiven, steil aufragenden Felswände. Sterne funkelten vereinzelt, es war feucht und kalt, wie ein Schleier fiel dünner Regen. Etwas entfernt sah ich Licht wie von einer Insel und ging langsam darauf zu. Es war eine Verkaufsbude für Tabak und allerlei Kram. Ich kaufte mir eine Packung der einheimischen Zigaretten und Streichhölzer. Auf dem Weg hatte ich bemerkt, dass mir jemand folgte. Verhielt ich den Schritt, ging auch dieser Jemand langsamer. Nun trat er ins Licht, sprach mit dem Mann und der Frau, denen die Bude zu gehören schien in einer melodiösen Sprache. Ein Mann mit ovalem Gesicht und dunklem Teint, mittleren Alters. Er trug den einheimischen Umhang und eine Wollmütze. Offensichtlich kannten sie sich. Als ich mich zum Gehen wandte, sah ich, wie er mir nachblickte und hörte bald darauf wieder seine Schritte hinter mir. Irgendwo in der Mitte des Weges rief er mich leise auf Englisch an. Ich wartete und er kam näher. Dann fragte er, erregt, schnell, sein Gesicht war nur ein Schemen im Dunkel, doch sah ich seine weit geöffneten Augen:
»Wissen Sie, wo Sie sind?«
»Ja, ich weiß«, antwortete ich leise.
»Sie wissen es? Und wissen Sie auch, was hier vorgeht, was mit uns geschieht?«
»Ja, ich denke, ich weiß es, wenn auch nicht im Detail.«
»Sie wissen es? Warum sind Sie hier? Woher kommen Sie?«
»Aus Deutschland.«
»Aus Deutschland. Das liegt in Europa, nicht wahr? So weit. »Warum sind Sie hier hergekommen?«, fragte er heftig.
»Sie sind kein Tourist, was tun Sie hier?
«Ich entschied mich, ihm die Wahrheit zu sagen, ganz offensichtlich war er kein Polizeispitzel, dafür war er zu sehr er selbst und zu nah. Es war gewissermaßen eine vertraute Stimme, die mich dort befragte. Vor einem viertel Jahrhundert hätte ich oder einer meiner Freunde einem mehr oder weniger zufälligen Besucher der Misere, in der wir lebten und gegen die wir aufbegehrten, die gleichen Fragen gestellt. Warum also war ich dort? Ich sagte ihm, ich sei Fotograf und wie zum Beweis wies ich auf meine Fototasche. Ich hatte keinerlei Auftrag, niemand schickte mich, zufällig hatte ich auf meiner Reise durch einen fremden Kontinent erfahren, dass seit kurzer Zeit und wahrscheinlich für sehr kurze Zeit diese Grenze zu einem Land im Krieg, einem ehemaligen Paradies, für Touristen geöffnet worden war und hatte mich auf den Weg gemacht.
»Ich bin Fotograf, weil ich die Dinge mit meinen eigenen Augen sehen muss«, sagte ich.
»Es ist meine Art, Wirklichkeit zu erfahren, Anteil zu nehmen und Anteil nehmen zu lassen.«
»Hören Sie, uns sind die Hände gebunden, wir können nichts für uns tun. Wir können nicht sprechen, nicht rufen, nicht schreien. Niemand kann uns hören. Seien Sie unsere Augen, unsere Ohren und unsere Stimme.«Mit einem langen Händedruck verabschiedeten wir uns und er verschwand in der Nacht. Einst hatte ich mich einen Zeugen genannt, und obwohl die Grenze bisweilen dünn und fließend ist, bestehe ich auf der Differenz zwischen Zeugen und Beobachter. Der Beobachter sieht nichts, heißt es. Das mag so sein oder bezweifelt werden, doch in jedem Fall sieht der Zeuge mehr, als ihm lieb sein kann. Plötzlich sind wir einer Sache zu nahe gekommen. Die Kopfstütze ist verschwunden.
Kommentar schreiben