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Die Erde verlassen

Die Texte auf Deutsch

Bernd Markowsky

 

DIE ERDE VERLASSEN

 

 

 

 

 

Wie toll! So grauenhaft überspannt es ist: Tatsache war, dass wir in China

 

Revolution machten. Und scheinbar glückte uns der Streich.

 

 

 

Robert Walser

 

 

 

 

 

 

 

 

Gebet für die Unheilbaren

 

Eil, o zaudernde Zeit, sie ans Ungereimte zu führen,

 

Anders belehrest du sie nie, wie verständig sie sind.

 

Eile, verderbe sie ganz, und führ ans furchtbare Nichts sie,

 

Anders glauben sie dir nie, wie verdorben sie sind.

 

Diese Toren bekehren sich nie, wenn ihnen nicht schwindelt,

 

Diese... sich nie, wenn sie Verwesung nicht sehn.

 

 

 

Friedrich Hölderlin

 

 

 

 

Für Nele, mit der ich zu wenige Wege ging;

 

Für Oliver, der mich zu Reisen lehrte;

 

Für Schaganeh, die kleine Waldläuferin;

 

Für Teresa, die meinen Weg teilt;

 

Für Maria, die mich auf die Reise schickte;

 

Und weiterhin für alle, in deren Leben ich Gast sein durfte

 

 

 


Zu leben braucht es, gestern und heute

 

Die Erde verlassen? Oder zu ihr zurückkehren?

 

 

 

 

Mit diesem schönen Buch »Die Erde verlassen«, das uns in Wahrheit einlädt, zu ihr zurückzukehren, begeben wir uns wieder auf den Weg, der notwendiger ist, denn je.

 

Wir hoffen auf die allfällige Wiederkehr des geselligen Umgangs mit den Lesern, um zu verschiedenen Strömungen und Initiativen beizutragen, die zwischen uns die Gegenwart verständlicher machen und eine Zukunft der besseren Harmonie mit allen Lebensformen erschaffen wollen.

 

 

 

Das erste Mal traf ich Bernd, als wir die Zerstörung einer noch nicht betonierten Zone an der Douro-Mündung unweit seines Wohnortes zu verhindern suchten.

 

Kurz darauf musste ich nach Braga gehen. Nicht ihn traf ich dort, doch zufällig seinen Namen, in Zusammenhang mit einer Ausstellung von Fotografien und Texten, die zu diesem Buch wurden.

 

Ich war beeindruckt. Fotos und Texte offenbarten eine ungewöhnliche Aufmerksamkeit für die Welt und ihre Wirklichkeit, mit einem tragischen Flügel und einem anderen voll zärtlicher Liebe und Anteilnahme. Was die Sicht auf einige vergessene und faszinierende Ecken des portugiesischen Hauses einschließt, in die ihn seine Pilgerschaft trug. Die Heimat verlassen — eine Erde wiederfinden.

 

Später trafen wir uns über die Zeit des öfteren und das gemeinsame Projekt dieses Buches

 

 nahm Gestalt an. Vor allem Dank der Beharrlichkeit und Glut seiner Arbeit: da ist es.

 

Der Leser mag für einige Momente oder für ein ganzes Leben zur Erde zurückfinden.

 

 

 

José Carlos Costa Marques.

 

 

 

 

 

Die Erde verlassen und eine fotografische Reise beginnen

 

 

 

Von Ostdeutschland, seinem politischen Kampf und den Widrigkeiten jenes Lebens bis ins Portugal unserer Tage; Indien, Bangladesch, Afrika und weitere Länder durchquerend, fotografierte Bernd Markowsky unablässig die Orte, Menschen und Situationen die er während seiner Pilgerschaft traf.

 

Sie in Fotografien zu vereinen, jene doch so verschiedenen Menschen, Situationen und Kontinente, das ist seine tiefe Menschlichkeit, seine politische Kohärenz und sein Kampf für das Weiterleben.

 

In dieser fotografischen Reise begegnet uns eine sehr portugiesische Idee: die Heimat zu verlassen.

 

Der Weg war alles andere als touristisch, er führte durch die innere Seele und das Leben all jener Menschen. Ich kenne Bernd Markowsky nicht näher, doch fühle ich, dass wir einiges gemeinsam haben, die Schwierigkeiten, die Kämpfe, die unaufhörliche Suche nach einem möglichen Glück.

 

Diese Fotografien sind Bilder von Menschen, die leiden, doch ebenso sind sie Bilder von Menschen, die leben, aufgenommen von jemandem, der gelitten hat und jeden Tag weiterzuleben sucht.

 

Nicht nur, dass ich mich gern mit der Menschlichkeit dieser Bilder identifiziere, ich kenne auch die Umstände, unter denen Bernd seiner fotografischen Berufung folgt, nämlich alles, oder von allem etwas zu tun, um das »Privileg« zu haben, Fotograf zu sein. Das nennt man Liebe zum Beruf und zum Leben.

 

Ich möchte auf die fotografische und ästhetische Qualität dieser Arbeit aufmerksam machen. Wieder und wieder sind da Bilder, denen ich die auf ihnen lastende Zeit nicht anmerke. Ich fühle, auch wenn die fotografische Technik sich in den letzten Jahren weiter entwickelt hat, dass diese analogen Aufnahmen den unverwechselbaren Geruch aufrichtiger, unverfälschter Fotografien haben, unabhängig davon, wann und wie sie aufgenommen wurden.

 

Dies ist das erste Mal in meinem ganzen Leben, dass ich ein Vorwort verfasse. Diesen Text zu schreiben, war mir nur wegen der beeindruckenden Fotografien voller Gefühl und Respekt möglich. Einige von ihnen hätte ich selbst gern aufgenommen, weil ich mich ihrer fotografischen Sprache sehr nahe fühle. Beim Durchsehen erstehen mir Erinnerungen auf und ich sehe Situationen wieder, denen ich im Lauf meines Lebens begegnete. Etwas, das ich am meisten antraf, war Ungerechtigkeit und das erinnert mich daran, dass nicht alle haben, was sie verdienen. Mehr noch als diesen Text verdient Bernd alles Glück der Welt für seine wunderbare Arbeit.

 

 

 

Alfredo Cunha

 

Vila Verde, 30. November 2008

 


 

Als Fotograf werde ich zum Träumer. Das Leben der Menschen betrachtend, träume ich Leben.

 

Und hier die Geschichte, die mir meine Eltern immer wieder erzählten:

 

Sie laufen mit mir eine Straße in West-Berlin entlang, beide halten mich an der Hand und bleiben vor dem Schaufenster einer Buchhandlung stehen. Mein Vater zeigt auf ein Buch, das ihn interessiert und meine Mutter zeigt mit dem Finger und fragt: dieses da? Und als er nach meiner Hand greift, ist sie nicht mehr da, und als meine Mutter nach meiner Hand greift, ist sie nicht mehr da. Sie sehen nach unten, dann einander an, dann die Straße rauf und runter, ich war und blieb verschwunden. Zuerst erstaunt, dann in Panik rannten sie durch die Straßen.

 

Meine fotografische Reise begann nicht in Polen, sie begann in West-Berlin, nachdem ich aus dem Gefängnis und aus der sogenannten Demokratischen Republik entlassen worden war. Erstaunt, manchmal schockiert und zuweilen selbst in Panik versuchte ich zu verstehen, welche Art Leben und was für eine Zukunft für uns vorbereitet war in jener sogenannten freien Welt.

 

Der Junge von drei Jahren wurde recht weit entfernt gefunden, wie er sich mit Kanalarbeitern unterhielt, die in einem Loch in der Straße verschwunden waren.

 

Polen 1980, eine Bewegung geht durch das Land, Solidarność, »Solidarität“ genannt. Heutzutage ein geradezu geheimnisvolles Wort, in jenen weit vergangenen Tagen eine machtvolle selbstorganisierte Gewerkschaft, die mit Streiks, Besetzungen von Fabriken und Kohleschächten das Land erschütterte. Nach so vielen Versuchen der Veränderung; Demonstrationen, die von Polizei und Armee mit Knüppeln und Gewehren, Blutvergießen auf offener Straße niedergeschlagen wurden, erfolglosen Streiks, namenlosem Leid, was war am Ende der Schlüssel zum Erfolg? Vor allem, dass so verschiedene Gruppen wie Arbeiter und Intellektuelle einander zu verstehen suchten und endlich zusammenarbeiteten.

 

West-Berlin, in meiner Erinnerung vor allem grau, mit grauem Himmel über grauen Straßen und grauen Mauern, mit bunten Einsprengseln nahe der großen Mauer, die diese Insel der Verrückten einfriedete. Ohne jene verschiedenen Einwanderer aus der Fremde mit ihren Kulturen, wie hätte ich dort leben können?


Nach dem nervösen und wirklichen Mauerzusammenbruch hatte ich eine Pilgerreise auf mich zu nehmen, die mich weiter hinausführte.

 

Seit meiner Kindheit wusste ich, dass da ein riesiger Teil der Welt existiert, in dem es alles gibt.

 

Alles, was wir fürchten. Gewalt, Hunger, Mord, Sterben.

Leiden.

    Leiden.

        Leiden.

Ja, wir wissen. Wir wissen das alles. Wir kennen die Geschichte. Wir wissen, wir sind die Weißen.

1972 war ich das erste Mal in Polen, einem Ruf der Liebe folgend, wie ich glaubte und mich völlig allein und mittellos in einem fremden Land wiederfindend. Doch trug ich eine billige Gitarre mit mir und spielte und sang meinen Blues auf dem Brunnenrand des Marktplatzes von Krakow sitzend. Junge Polen umringten mich gestikulierend und fragten, woher ich käme und wer ich sei. Die Wahrheit sagend antwortete ich, dass ich nicht wisse, wer ich sei und wohin ich gehen solle. Sie breiteten eine Landkarte vor mir aus und luden mich ein, mit ihnen ihr Land zu durchstreifen. Eines unvergesslichen sonnigen Morgens betraten wir eine Bäckerei, um Brot fürs Frühstück zu kaufen. Eine Frage meiner Freunde beantwortete ich versehentlich auf Deutsch. Und eine alte Frau in Schwarz, klein und dünn, deren Haar ein schwarzer Schal bedeckte, drehte sich sofort zu mir um, zeigte auf mich und schrie: »Ein Deutscher, das ist ein Deutscher!« Sie konnte nicht aufhören, zu schreien.

 

 

Ja, meine Damen und Herren, wir verließen die Bäckerei, doch werde ich nie die brilliantenen Tränen in ihren Augen vergessen. . .


Khulna, Bangladesch 1997

 

Eines frühen Morgens auf Deck einer Fähre nach Dhaka sah ich eine Reihe Boote vorbeiziehen. Eines nach dem anderen bewegten sie sich langsam, lautlos, endlos. Einige trugen Segel von dunklem Rot, andere schwarze, andere wieder rostfarbene, doch alle waren zerschlissen. Niemand von den Fischern — und dass sie Fischer waren, unterlag keinem Zweifel, auch wenn ich keinen Fang ausmachen konnte —, niemand von ihnen sprach ein Wort, ich sah kein Lächeln, kaum dass sie die Fähre und ihre Passagiere wahrnahmen. Unbewegten Gesichts starrten sie auf einen Punkt weit vor ihnen. Hinter ihnen aber lagen die Sunderbans und das Meer.

 

 

Träumte ich? Gebannt schaute ich ihren Zug, unfähig, auch nur ein einziges Foto zu machen.

 

Später, in Dhaka, hörte ich die Nachricht, dass vor der Küste ein Taifun fünftausend Fischer getötet hatte. Was ich sah, war die Rückkehr der Überlebenden.

 


Meghalaya, seiner alten, runden Berge und des milden, doch regenreichen Klimas wegen Schottland Asiens genannt. Und wie in der alten schottischen Kultur gibt es zahllose Menhire und viele Rituale um diese Steine, wie vor ihnen zu sitzen und sie mittels Beschwörung und Gesang aufzurichten. Darüber hinaus gibt es andere seltsame Gebräuche, noch immer. Meghalaya ist eine der seltenen matrilinearen Gesellschaften. Immer ist die jüngste Tochter Erbe des gesamten Familienbesitzes, damit aber auch verantwortlich für das Wohlergehen eines jeden Familienmitglieds.

 

Heilige Wälder wurde von den Vorfahren in der Nähe ihrer Dörfer gepflanzt und festlich mit Gesängen und Beschwörungen geheiligt. Noch immer werden mit ihnen der alte Glaube, und die mit ihm verbundenen Mythen und Riten von Generation zu Generation weitergegeben. In der Mitte des Waldes lebt verborgen in einer Höhle der Tigergeist, der den Geist der Vorfahren verkörpert, beschützt und bewahrt.

 

Sein Adjutant ist eine große Schlange, zuweilen mit einem Edelstein gekrönt, welche die Einhaltung der heiligen Regeln überwacht.

 

Kein Baum kann gefällt, kein Ast gebrochen, kein Blatt abgerissen werden. Eines Tages ging ich mit Dorfbewohnern in die Wildnis, da sie mir die Höhle ihres Tigergeistes zeigen wollten. Es war heiß und schwül, die Pfade rutschig und wir gingen in einer Reihe hintereinander. Der Weg führte bergab, vor uns erhob sich ein Bambusdickicht. Plötzlich erscholl vorn ein hoher, schriller Schrei, die Reihe hielt.

 

Ich befand mich fast an ihrem Ende und ehe mich noch eine Nachricht erreichte, sah ich neben dem Weg eine große kastanienbraune Schlange, etwa drei Meter lang und armdick, die schnell auf mich zu glitt. Sie verhielt, hob den Kopf und sah mich eine Weile an, die gespaltene Zunge züngelte mir entgegen. Dann verschwand sie auf dem Weg, den wir gekommen waren. Die Frau, die auf dem Foto links zu sehen ist, sagte leise: »Das ist eine Bergkobra, oi, sehr giftig. Sie ist der Hüter des Tigergeistes. Sie kam, um zu sehen, welche Art Leute da zu seiner Höhle unterwegs sind. Alles in Ordnung, wir haben nichts falsch gemacht.«


Der Traum des Tigermannes

 

Reise weiter hinein ins Unbekannte, verlasse die Straße, folge dem Weg, denn er führt dich durch Dörfer, von Mensch zu Mensch. Und plötzlich ein Hindernis. Der Weg wird zum Damm und dahinter ist die Erde voll Wasser, in dem Menschen bis zu den Knien stehend sich beugen, grüne Büschel in ihren Händen. Sie pflanzen Reis. Wohin des Weges? wirst du gefragt und jemand geleitet dich je nach deiner Antwort nun also ins nächste Dorf zu einer geräumigen Bambushütte. Die Frau des Hauses sitzt vor ihrem offenen Herd in der Küche. Ohne ihre Einladung darfst du die Schwelle nicht überschreiten. Es heißt, diese Frau wird der nächste Tiermensch. Jetzt kocht sie Reis, eine Sorte, die nur hier angebaut wird, von leicht rosa Tönung und kräftigem Geschmack. Der Raum über dem Herd und der Rauchfang sind schwarz. Der Rauch ist heilig und was in ihm aufbewahrt wird, bleibt unverdorben.

 

Später werden die älteren Tigermänner kommen und ihre Geschichten erzählen. Von unbändiger Lach- und Lebenslust, Erzähler unglaublicher Geschichten, explosives Energiebündel: Dissing Mariñ, jener mit dem buckelartigen Muskel im Nacken, von dem er sagt, dass all seine Verwandlungskraft in ihm stecke.

 

Und hochbetagt Joit Makri, der fühlt wie ein Dichter und denkt wie ein Philosoph: »Ach all das Leiden! Keine Freiheit hier und dort ist es schlimmer. Irgendein kleiner Fehler und du bist gefangen. Das Leben ist schon nicht leicht, doch träumen kann schwerer sein.«

 

Doch das ist schon eine andere Geschichte. Und ein anderes Buch. . .

 

Vielleicht!

 


Bangladesh 1997

 

Reiste durch die Heimat eines ungewöhnlichen Menschen, des Sängers Bijoi Shorkar. Er starb 1986 auf dem Weg nach Indien. Wissend, dass er sterben werde, wollte er seine Tochter noch einmal sehen.

 

Doch ist er noch immer lebendig im Gedächtnis des bengalischen Volkes. Zu Fuß wanderte er von Dorf zu Dorf, gefolgt von seinen Musikern, und niemals trat er in Städten auf. Eines Tages erreichte ihn mitten im Konzert die Nachricht von Tod seiner Frau. Tränenüberströmt begann er ein neues Lied, das ihm im Stegreif zuflog.

 

Hier kann ich lediglich seinen Sinn wiedergeben. Wie andere arme Völker lieben es die Bengalen, Vögel in Käfigen zu halten und für sich singen zu lassen.

 

Er sang: »Der Käfig stand offen, oh schöner Vogel, der für mich immer sang, du bist mir entflohen. Geliebte, der Schmerz schlägt mich nieder und tiefer begreife ich jetzt, jetzt erst deinen wahren Wert. Doch weiß ich auch, dass du, meine Amsel, nun frei in den Lüften singst. Singe, Seele und folge dem Vogel meiner Liebe. . 

 

Nachdem ich das erste Mal von ihm sprechen gehört hatte, fragte ich, wen auch immer ich traf, nach Erinnerungen, Geschichten und Liedern dieses Mannes.

 

Eines Morgens früh klopfte es derb an die Tür meiner Herberge. Im Gegenlicht stand jemand in Uniform, der mich umstandslos fragte, ob ich derjenige sei, der überall Erkundigungen über Bijoi Shorkar einhole. »Ja, das tat ich. Ist daran etwas falsch?«

»Nein, nein, das ist in Ordnung. Ich wollte Sie in sein Dorf bringen.«

 

»Wann?«

 

»Jetzt, wenn Sie gerade Zeit hätten.«

 

Und so fuhren wir auf seinem Dienstmotorrad ans Flussufer, das zu dieser Jahreszeit weit im Landesinnern lag und dann in einem Boot durch das träumende Land. Wo immer wir hielten, gab es einen Menschenauflauf, wurden mir Bilder von Bijoi gezeigt und seine Lieder gesungen. Das Dorf lag auf einer kleinen Insel wie auf dem Rücken eines Wals. Dutzende Menschen führten mich durch ihr Dorf und zeigten mir sein Haus. Es war das einzige Ziegelgebäude weithin, wie sie stolz erklärten, und sie hatten es für ihn errichtet. In einem der hellen Räume lag noch eine seiner Holzsandalen und an der Wand hing sein eleganter Wanderstab.


Bangladesh 1994

 

Auf dem Weg von Mymensingh nach Dhaka, aus dem Fenster des Busses schauend, sah ich weit entfernt eine seltsame Linie, eine dünne, schwarze Kontur. Der Horizont in Bangladesch ist überwältigend, die Erde liegt völlig flach oder eher wie ein Teller leicht konvex und man kann in alle Richtungen unendlich weit sehen. An jenem Tag war das Licht anders, grell und von einem irrealen Weiß. Deshalb war diese schwarze Kontur auf der Horizontlinie irritierend. Ich fragte meinen Reisegefährten, ob er das Gleiche sähe wie ich. »Was, wo denn?«, fragte er zurück, mehr nicht. Doch die Linie wuchs, erhob sich, unglaublich. Sie wuchs sich schon zu einer Sperre aus, mit der Zeit schneller, bald zu einer riesigen rostigen Eisenwand, die sich langsam auf uns zu bewegte. Ich berechnete den Weg, der uns von unserem Ziel trennte und das Wachstum der Wand. Richtig, sobald wir Dhaka erreichten, brach das Unwetter los, uns mit heftigem Regen und Sturmböen umarmend. Es gelang uns, in ein bereitstehendes Moto-Taxi zu springen und unser Fahrziel zu nennen. Doch nach einigem heftigem Schütteln suchte der Fahrer im Windschatten einer hohen Brandmauer Schutz, drehte sich nach uns um, zuckte die Achseln und hob die Hände. Vor uns stürzte ein hoher Avocadobaum krachend zu Boden und kleine Avocados kullerten über den Asphalt. Auf der anderen Straßenseite beugte sich ein weiterer Avocadobaum gefährlich unter der Gewalt des Sturmes, um splitternd nah  vor uns zu fallen. Der Fahrer verließ das Taxi und sammelte Avocados. Sie waren  leicht säuerlich und schmackhafter als reife.

 

Sah hinter den Regenvorhängen geisterhaft Menschen, verbarg meine Kamera unter der Jacke und sprang hinaus. Es war wie ein Kopfsprung ins Wasser.

 

Unvermittelt tauchte ich vor einer Gruppe Menschen auf, die unter dem Dach einer Bushaltestelle Schutz gesucht hatten und mich mit großen Augen wie ein weißes Gespenst anstarrten. Zurück im Moto ließ der Regen etwas nach, doch der Fahrer schüttelte den Kopf: Das war noch nicht alles. Erst hörten wir ein Prasseln im Blätterdach, dann zerplatzten weiße, faustgroße Eisbälle auf dem schwarzen Asphalt. Noch während die Eisbälle herabstürzten, kamen nackte, dunkelbraune Kinder gelaufen. Tanzend, springend und kreischend sammelten sie die Eisbälle und Avocados in geflochtene Körbe und verschwanden wieder.


Meghalaya 1997

 

Ein Freund vom Volk der Khasi berichtete mir von einem Dorf, das abgetrennt vom Rest des Landes, hinter der Grenze der Zivilisation liege. Zwei Erdplatten stoßen dort aufeinander und die nördliche hebt die südliche beständig an. Jenes Dorf liegt am Fuße einer enormen Bruchkante.

 

Nun, im Lande der Khasi ist es nicht möglich, zu gehen, wohin man will. Wenn ich unbegleitet die Gegend durchstreifte, wurde ich ständig befragt, wer ich sei, wohin und zu wem ich wolle, manchmal von einer Stimme, die zu einer für mich unsichtbaren Person hinter einer Hecke gehörte. Ein Besucher, der an ihm unbekannten Ort gut empfangen zu werden wünscht, hat eine Reihe von Regeln zu befolgen. An vorbestimmtem Tag, zu vorbestimmter Stunde begebe er sich zur Residenz des Königs und erkläre Ziel und Grund seiner Reise. Der König wird einen Brief an den Dorfchef senden und nach einigen Tagen trifft die einwilligende oder ablehnende Antwort ein. In meinem Fall erhielt ich die Nachricht, zu einer weiteren Audienz zu erscheinen, wo mir die Einladung des Dorfes überreicht wurde.

 

Am bestimmten Tag erwarteten mich dann drei seiner Bewohner am Ort der Königsresidenz. Mit ihnen und ihren Freunden, die plötzlich von allen Seiten erschienen, waren wir schließlich dreizehn Personen in einem Taxi, welches uns ans Ende der Straße brachte.

 

Auf dem Plateau direkt am Abgrund konnten wir weit hinaussehen, doch nicht das Dorf unter uns. Eine sanfte Brise trug einen großen, metallisch blauen Schmetterling mit schwarz umrandeten Flügeln herauf. Wir nahmen unser Gepäck und machten uns an den Abstieg. Bald sahen wir das Dorf einige hundert Meter unter uns. Welch enorme Kraft treibt diese zwei Teile derselben Erde unaufhaltsam auseinander, obwohl sie doch aufeinander zu streben. Mit einigen Pausen brauchten wir drei Stunden, bis wir die ersten Häuser erreichten. Die Dorfbewohner sprachen immer wieder von einem Lehrer, der den Abstieg in dreißig Minuten schaffte, wie eine Bergziege von Stein zu Stein springend. Und hinauf? Wollte ich gern wissen. »Er hatte dort oben eine Liebste, das machte seinen Füßen Flügel«.

 

Unten angelangt passierten wir alte Häuser aus Bambus und Holz, mit Strohdächern und geschwungenen Giebeln. Das Dorf war in zwei geteilt, im oberen wohnten die Alten, im unteren die Jungen. Ihr Chef war achtundzwanzig, sehnig und muskulös, gutaussehend, mit weiblichen Zügen. Auf der Schwelle seines Hauses saß seine hübsche Schwester, deren Gesicht männliche Züge hatte. Bald war ihr Haus voll junger Leute. Einer von ihnen brachte eine Westerngitarre und versuchte sich an irgendeiner Rockmusik. Niemand wusste die Gitarre zu stimmen und ich hatte keine Lust auf Rock in Nord-Ost-Indien. Alle waren sie sehr sympathisch, doch verstand ich mehr und mehr, dass sie ihre eigene Kultur verloren hatten, ihre Wurzeln, die Gesänge, die Tänze, die Musik, die Geschichten, den Glauben ihrer Vorfahren. Alles, was ich noch in den Dörfern der Tigermenschen fand; ihre Priesterin Ini, die auf einer Bambusflöte mit nur zwei Löchern spielte, auf der Maultrommel Musikstücke wie jenes, mit dem man den Tiger zum Tanzen bringt und alte, eindrucksvolle Lieder sang; der Tigermann Bah Disingh, den großen dreidimensionalen Geschichtenerzähler: wenn er von einem Schwein erzählte, sah jeder genau dort ein Schwein; dies und vieles mehr fehlte in diesem Dorf. Am anderen Ort, wo es noch immer kulturellen Reichtum gab, waren die Menschen sich ihres Wertes bewusst, voller Würde, doch ohne falschen Stolz; hier war ich aufgefordert, ihre Felder, eine von ihnen errichtete Bambusbrücke, ihre Geschicklichkeit im Fischen . . . zu bewundern. Wegen ihres unbestimmten Verlustgefühls entwickelten sie eine Art Fernweh, das ich sehr gut verstehen konnte. Denn es ging mir nicht anders, als ich jünger war und bevor ich zu reisen begann.

 


Ich war zum ersten Mal in Afrika, auf dem Weg nach Somalia, verließ das Hotel nach dem Mittagessen und machte mich auf den Weg in die Innenstadt von Nairobi. Bald sah ich mich von Beton umringt, runden Türmen, quadratischen, öden Fassadenflächen. Passierte einen hohen Tunnel und sah zunächst Menschen in grauen Büroanzügen mit Krawatten und geglätteten Haaren, alle gleich aussehend, Männer wie Frauen, die in die gleiche Richtung aus den Fenstern gelehnt nach etwas Ausschau hielten, manche standen auf den Fensterbrettern. Als ich um die Ecke bog, sah ich etwa fünfzig Meter entfernt einen Menschenauflauf. Die ersten der Herumstehenden erreichend, öffnete sich eine Gasse in der Menschenmauer und ich wurde nach vorn geschoben. Von Schuhen umringt lag ein junger Mann am Boden. Haben einen Dieb gefangen, sagte jemand.

 

Hat was gestohlen?

 

Irgendwas, eine Lampe von einem Auto oder so.

 

Ein Mann beschäftigte sich angelegentlich mit dem Jungen, schlang ihm die Eisenkette um die Beine, zerrte immer heftiger an ihr, hob das Gestell mit dem Verkehrsschild über dessen Kopf und tat, als wolle er ihm den Kopf zerschmettern, jedes Mal näher, ihn am Ende fast berührend und schaute sich Beifall heischend um. Zwei, drei Büro-uniformierte begannen sich mit ihm zu bewegen. Die Situation wurde bedrängender, was konnte ich tun? Schreien? Die Rolle des Weißen spielen, der für Ordnung sorgt? Keine verlockende Aussicht. In diesem Moment hoher Anspannung und großer Zweifel erschien festen und schnellen Schritts eine Frau, eine »Mama«, beleibt und stark, den Mob wie lästige Fliegen auseinander treibend, preschte sie mitten hinein in den nervösen Auflauf. »Was ist denn hier los?«, schimpfte sie schubsend, Tritte und Ohrfeigen an Widersetzliche verteilend. »Verschwindet, verzieht euch nach Hause, hier ist jetzt Schluss!«

 

Sie half deren Opfer auf, nach Schmerzen und Wunden fragend. Doch nun, erst jetzt, kamen langsam drei Polizisten, die von Anfang an die Szene von ihrem Auto auf der anderen Straßenseite beobachtet hatten, kamen nun gemächlichen Schritts, fesselten die Hände des Jungen auf dem Rücken, brachten ihn zum Auto, und nun waren sie es, die ihn schlugen.


Eine schwierige Situation, etwas verwirrend. Im Hintergrund, in der Mitte der Ansammlung hält sich eine Frau die Nase zu. Ist da ein Geruch? Die Frau in der Mitte und die drei Kinder sind umringt und getrennt von den anderen. Sie sind außerordentlich müde und schwach. Niemand der Hiesigen kennt den Ort, den sie verließen. Sie überschritten eine Grenze. Die Grenze, die das Reich der Lebenden vom Niemands-Land trennt, dem Reich der Enterdeten; derer, die gezwungen werden, die Erde zu verlassen. Die Bilder, die sich Menschen von Außerirdischen machen, sind zunächst Bilder von Verhungernden, erst dann werden ihre Hungergesichter zu Insektengesichtern verfremdet, da sie uns schlicht unerträglich sind.

 

Hier, in diesem Dorf sah ich jemanden im Schatten eines großen Baumes einen Brunnen graben, der sich sprudelnd mit Wasser füllte. Es kam eine Ziegenherde und eine Gruppe Kamele zur Tränke und die Tiere tranken, bis ihr Durst gestillt war.

 

Nun erheben sie sich aus dem Staub, die Auswanderer aus dem Niemands-Land, schwerfällig, müde, doch standhaft, denn dies ist ihre Art, ihren Lebenswillen zu zeigen.

 


Im Mogadishu des Jahres 1992 fand ich einen Freund, Mohammad, der mich einlud, in seinem Haus zu wohnen, solange ich wolle. Er war sehr aufmerksam und die Art, wie er mich mit allen Dingen des Hauses bekannt machte, die mich beunruhigen konnten, außerordentlich zuvorkommend. »Dies ist das Haus meines Vaters und seines Vaters, der es gebaut hat. In unserem Viertel kennt uns jeder.«

 

Er zeigte mir das Zimmer, das zu meiner Verfügung stand.

 

»Sieh dort das Fenster, es steht wegen der Hitze immer offen, doch mach dir deswegen keine Sorgen, der Zugang von der Straße ist mit Dornengestrüpp versperrt. Niemand kann da hindurch. Siehst du die Palmenwedel hinter dem Fenster? Abends kommt ein Wind auf, der die Wedel bewegt, sie kratzen dann an der Hauswand. Wenn du dieses Geräusch hörst, mach dir keine Sorgen, das sind nur die Palmwedel. Schau, dort kommt die Katze, ist sie nicht groß? Und sie ist neugierig. Wenn du nachts ihre Augen am Fenster leuchten siehst, mach dir keine Sorgen, es ist nur die Katze, die nach dir sieht. Manchmal wirst du vom Dachboden über dir Schritte hören, mach dir keine Sorgen deswegen, es ist nur die Katze, die nach Mäusen jagt.«

 

In windig-dunklen Nächten sah ich den südlichen Himmel voller fremder Sternbilder und hörte das krächzende Singen der Muezzins aus den verschiedenen Gegenden der Stadt, raue, schrille Stimmen voller Schmerz, als riefen sie um Hilfe, zu einem unbekannten Gott um Hilfe zu rufen.

 

Mit Mohammed an meiner Seite, war es mir möglich, den Markt in der Nähe seines Hauses zu besuchen. Dort sah ich einen jungen Mann, der sich auf dem Karren ausruhte, mit dem er Waren transportierte und machte ein Foto aus der Hüfte. Er bemerkte es und winkte mich herbei.
»Weißt du, ich kenn alle Tricks, ich war Fotograf. Ich hatte alles, Kameras, Blitzgeräte, Dunkelkammer. Doch ging alles verloren. Gestohlen,  geraubt, den Rest hab ich verkauft und mir diesen Karren besorgt. Jetzt bin ich Transportunternehmer.
«

Eine Weile sah er auf meine Kamera und dann in mein Gesicht. »Es ist gut, dass du fotografierst. Hier könnte niemand als Fotograf überleben.«

 


Die Sonne ein brennendes unbarmherziges Auge, oranges Licht über uns, die Luft überfiel uns mit gelbem Staub und Gemurmel. Plötzlich drehte die Sonne ins Schwarz, von wabernden orangen Ringen umgeben. Ich hatte Schwierigkeiten, Details zu auszumachen: den knochigen älteren Mann mit dem Blechnapf als Sonnenschutz auf dem Kopf, den stockdünnen Arm eines nackten Jungen haltend; apathische Kinderaugen, übergroß aus einer anderen Welt herüber starrend, andere mit fiebrig glimmender Hoffnung; die wirre Schlange der halbnackten Wartenden. Ein Mann, so spinnendünn und schwach, dass er sich nicht mehr aufrichten konnte, und sich krebsartig seitwärts bewegte, Fuß auf Fuß nachschleifend in Richtung der Eisenfässer, in denen Essen gekocht werden sollte. Die Feuer unter den Fässern waren bereits angefacht, Säcke mit Reis und Bohnen standen bereit, doch hatte jemand vergessen, den Tankwagen mit Trinkwasser zu schicken, und so wurden am Ende die Feuer wieder gelöscht und die Speisung in zitternde Hände, Becher und aufgehaltene Tuchfetzen ausgegeben, trockener Reis und trockene Bohnen.

 

Wir sind in dem so genannten »feeding center« in Baidoa. Etwa einhundertfünfzig Kilometer entfernt trafen wir auf dem Weg eine Frau zu Fuß wandernd mit drei Kindern, zwei davon trug sie mit dem Rest ihrer Habe. Sie lief dem Hunger davon, und war auf dem Weg zu der Stadt Baidoa, welche zu jener Zeit den verdienten Namen »Hauptstadt des Todes« trug.

 

Baidoa! Das war auch jenes Kind, vielleicht drei Jahre alt, das im Schatten einer Säule auf den Steinplatten lag, verloren auf dem Platz, der einmal den Eingang einer Schule bildete. Stöhnend den Konvulsionen der Hugerdiarrhöe, dem Fieber, dem Anthrazit der Sonne, dem meißelnden Hunger schutzlos preisgegeben. Gemächlich ist der Schatten weitergewandert.

 

Ganz in der Nähe jenes Kindes, das vielleicht ein Junge war, saß unbeweglich eine Frau, groß und dünn, sehr aufrecht, den Kopf leicht abgewendet, mit einem  Gesicht so abwesend, dass es zu zerfließen schien. Nach einer langen Zeit drehte sie sich mit großer Anstrengung dem Stöhnen des Kindes zu. Mehrmals bewegten sich ihre Lider langsam auf und ab. Mühsam, so mühsam versuchte sie sich zu erinnern. Plötzlich rückte sie ein Stück ab, weg vom Stöhnen, vom fremden Schmerz, der Erinnerung, die ihn zu ihrem eigenen werden ließ. Ihre Hand machte eine gegenläufige, weit ausholende Bewegung, die in der Nähe des Kindes endete, dort über ihm hängen blieb, als wollte sie es berühren. Doch es war zu schwer. Zu fern, und so blieb ihre Hand in der Luft hängen, um  nach geraumer Zeit zögernd zurückzukehren und kraftlos neben ihr auf den Stein zu fallen. Die Luft war voll schlieriger Schleier, jede Bewegung teilte sich direkt mit. Wäre sie nicht so ausgedörrt, fände sich in ihr noch eine Spur Feuchtigkeit, dann könnte sie jetzt weinen.

 


Bardera war die weniger gewalttätige Stadt in der Mitte der Halbwüste. Aus dem öffentlichen Bild waren die Waffen verbannt, und nur hier war es mir möglich, mich ohne bewaffneten Begleitschutz bewegen. Und dennoch sah ich eben hier drei Männer mit schussbereiter Waffe, die eine Frau im Laufschritt auf offener Straße vor sich hertrieben.

Ich hatte Unterkunft in einem Haus, das von einer australischen Hilfscompany genutzt wurde. Das Zimmer war fast völlig leer: Eine Matratze, ein wackliger Tisch, ein Stuhl bildeten das Mobiliar. Hoch an der Seitenwand befand sich ein kleines Fenster mit Metallgitter, das Luft hineinließ. Hinter der Wand hörte ich des Nachts ein kleines Kind unablässig husten wie einen alten Hund. Es erinnerte mich an meine Tochter, die mit neun Monaten von schwerem Husten gequält wurde. Wie diese ganze Reise ihren Ursprung in der Erinnerung an meiner Tochter hatte und in meiner Liebe zu ihr.

 

Ich will das erklären. Im Sommer des vorausgegangenen Jahres sah ich die ersten Nachrichten im Fernsehen über die Katastrophe der anhaltenden Trockenheit und des Hungers in Somalia. Hinter der Sprecherin war ein Bild zu sehen, das ein Mädchen von vier Jahren zeigte. Der ausgemergelte nackte Oberkörper zeigte überdeutlich alle Knochen, der dünne Hals, ihre großen Augen. . . wie konnte man sich dem entziehen? Ihre Haut war aschfarben, sodass der Eindruck einer schwarz-weiß-Fotografie entstand. Lediglich eine Halskette aus farbigen Steinen, die ein Amulett war, das sie beschützen sollte, zog in jenem Bild den Blick immer wieder an und brachte Entlastung für den Schmerz — des Betrachters.

In diesem Moment, den Trick erkennend, mit dem uns die Wahrnehmung des Wirklichen erspart wird, uns schont, ausspart, absondert und erhöht durch schlichte Nutzung elaborierter Techniken, auch solcher der Selektion, so antrainiert, dass sie fast schon unbewusst geschieht, uns immer weiter rat- und fraglos zurücklassend, in autistische Hohlkörper verwandelnd —, in diesem Augenblick des Aufruhrs schwor ich, dorthin zu gehen und zu fotografieren.

Hinter jener Hauswand in Baidoa lag ein Flüchtlingscamp. In dieser Nacht schlief ich schlecht, wusste nicht, was ich tun konnte, fühlte mich völlig nutzlos. Der quälende Husten des Kindes hörte nicht auf. Doch nach einigen Stunden schlief ich ein. Schlief unruhig, träumte schwer. Ich träumte, dass sich hinter diesem kleinen Fenster die Bewohner des Flüchtlingscamps versammelten und mit aller Kraft ins Zimmer drängten. Das Gitter wurde weggestoßen, ein Arm erschien, ein Kopf, ein Körper, einer nach dem anderen, bis das Zimmer voller Menschen war. Erwachte wie im Fieber und nass von Schweiß, spähte zum vergitterten Fenster hinauf, das nicht groß genug war, eine Katze hindurch zu lassen. Am nächsten Morgen verließ ich das Haus noch immer Traum-befangen und musste meinen Mut zusammennehmen, um zum Flüchtlingscamp zu gehen. Es bestand aus einer Ansammlung von runden Hütten. Einige der Bewohner schauten in meine Richtung, sie diskutierten mit lauten Stimmen und wiesen in verschiedene Richtungen. Ging ihnen entgegen und war bald von ihnen umringt. Es brauchte einige Zeit, bis ich das winzige Bündel entdeckte, das ein Mann im Arm trug und als er die Tücher zurückschlug, lag darin ein kleines Kind, das kaum noch atmete.

Offensichtlich suchten sie Hilfe. Ich wies auf das Haus hinter uns und sagte: Hospital, Hospital! Sie verstanden nicht und bewegten sich nicht, schauten nur. Dann war es, als schob mir jemand das Bündel zu. Fand ein Hospital und dort einen Arzt, der es mithilfe einer Sauerstoffflasche beatmete, wobei es fast erstickt wäre.

 

 


Vor Ort

 

Dem anschließenden Bericht voraus möchte ich von einer Begegnung erzählen, die an einem völlig anderen Ort stattfand, doch von so tief greifender, initiierender Bedeutung war, dass sich mir ihre ganze Tragweite erst jetzt, so viele Jahre später, zu erschließen beginnt.

 

Der Bus, den ich einen Tag zuvor noch als Ruine, verformt von einem Sturz aus größerer Höhe gesehen hatte, bewegte sich gleichmäßig brummend durch die Nacht, durch enge Kurven schlitternd, seit vielen Stunden Steigung um Steigung nehmend. Der Fahrer, ein bäriger und bärtiger Typ aus den Bergen, saß in einer abgeteilten Kabine, umgeben von jungen Männern, die lauthals die Lieder ihres Landes sangen, die zu uns nur gedämpft drangen. Der Fahrer sang auch, mit weit ausholenden Armbewegungen den Takt schwingend und gelegentlich das Steuerrad loslassend, um schwungvoll darauf einzuschlagen. Nach Mitternacht hielt der Bus in einem kleinen Ort, an dem wir übernachten würden, eine Holzbaracke mit grob gezimmerten Tischen und Bänken diente als Restaurant, erleuchtet von zwei Gaslampen. Ich aß eine warme Suppe und trat hinaus in die Nacht. Der Ort lag völlig im Dunkel, beiderseits der Straße ahnte ich mehr, als ich sie sah die massiven, steil aufragenden Felswände. Sterne funkelten vereinzelt, es war feucht und kalt, bisweilen fiel dünner Regen. Etwas entfernt sah ich Licht wie von einer Insel und ging langsam darauf zu. Es war eine Verkaufsbude für Tabak und allerlei Kram. Ich kaufte mir eine Packung der einheimischen Zigaretten und Streichhölzer. Auf dem Weg hatte ich bemerkt, dass mir jemand folgte. Verhielt ich den Schritt, ging auch dieser Jemand langsamer.

 

Nun trat er ins Licht, sprach mit dem Mann und der Frau, denen die Bude zu gehören schien in einer melodiösen Sprache. Ein Mann mit ovalem Gesicht und dunklem Teint, mittleren Alters. Offensichtlich kannten sie sich. Als ich mich zum Gehen wandte, sah ich, wie er mir nachblickte und hörte bald darauf wieder seine Schritte hinter mir. Irgendwo in der Mitte des Weges rief er mich leise auf Englisch an.

 

Ich wartete und er kam näher. Dann fragte er, erregt, schnell, sein Gesicht war nur ein Schemen im Dunkel, doch sah ich seine weit geöffneten Augen:

 

»Wissen Sie, wo Sie sind?«

 

»Ja, ich weiß«, antwortete ich leise.

 

»Sie wissen es? Und wissen Sie auch, was hier vorgeht, was mit uns geschieht?«

 

»Ja, ich denke, ich weiß es, wenn auch nicht im Detail.«

 

»Sie wissen es? Warum sind Sie hier? Woher kommen Sie?«

 

»Aus Deutschland«

 

»Deutschland. Das liegt in Europa, nicht wahr? So weit. Warum sind Sie hierher gekommen?« fragte er heftig. »Sie sind kein Tourist, was tun Sie hier?« 

 

Ich entschied mich, ihm die Wahrheit zu sagen, ganz offensichtlich war er kein Polizeispitzel, dafür war er zu sehr er selbst und zu nah. Es war gewissermaßen eine vertraute Stimme, die mich dort befragte. Vor fast einem halben Menschenleben hätte ich oder einer meiner Freunde einem mehr oder weniger zufälligen Besucher der Misere, in der wir lebten und gegen die wir aufbegehrten, die gleichen Fragen gestellt. Warum also war ich dort?

 

Ich hatte keinerlei Auftrag, niemand schickte mich, zufällig hatte ich auf meiner Reise durch einen fremden Kontinent erfahren, dass seit kurzer Zeit und wahrscheinlich für sehr kurze Zeit diese Grenze zu einem Land im Krieg, einem ehemaligen Paradies, für Touristen geöffnet worden war und hatte mich auf den Weg gemacht.

 

»Ich bin Fotograf, weil ich die Dinge mit meinen eigenen Augen sehen muss«, sagte ich. »Es ist meine Art, Wirklichkeit zu erfahren, Anteil zu nehmen und Anteil nehmen zu lassen.«

 

»Hören Sie, uns sind die Hände gebunden, wir können nichts für uns tun. Wir können nicht sprechen, nicht rufen, nicht schreien. Niemand kann uns hören. Seien Sie unsere Augen, unsere Ohren und unsere Stimme.«

 

Mit einem langen Händedruck verabschiedeten wir uns und er verschwand in der Nacht.

 

Einst hatte ich mich einen Zeugen genannt, und obwohl die Grenze bisweilen dünn und fließend ist, bestehe ich auf der Differenz zwischen Zeugen und Beobachter.

 

Der Beobachter sieht nichts, heißt es. Das mag so sein oder bezweifelt werden, doch in jedem Fall sieht der Zeuge mehr, als ihm lieb sein kann. »Plötzlich sind wir einer Sache zu nahegekommen. Die Kopfstütze ist verschwunden.«

 


Portugiesische Capricen

 

 

Seit den ersten aller Tage existierte das Waldvolk. Die Mutter Erde war ihr Paradies und diese Menschen waren erstaunlich, schauten zu Sonne und Mond, mit vielen Augen und Gesichtern, mit vielen Farben und Gesichtsausdrücken. Manche schauen auf das Leben und lachen, andere neigen lächelnd den Kopf, andere neigen den Kopf und lächeln nicht. Manche summen das Lied der Berge und andere summen das schwarzblaue Lied des Meeres. Für jeden hatte das Leben einen starken und wilden Geschmack wie Harz und Honig und mehr noch wie der Kuss einer Frau. Ihnen begegnete das Glück überall, auf den Bergen wie in den Tälern, in den Blumen wie im Meer. . .

 

Auf seltsamen Wegen im Portugal des Jahres 2001 begegnete mir eben jenes Waldvolk wie eine Laune der Zeit, Menschen von einem so starken Lebenswillen angetrieben, dass er sie die Zeiten überdauern ließ. Menschen mit einem magischen Licht in den Augen und leuchtendem Herzen im Vorgefühl allen Glücks. Manche von ihnen sind wie Bäume. Treiben ihre Wurzeln in die Erde, breiten sich aus auf die Höhe ihrer Erinnerungen, treiben Blätter und Zweige. Saugen Leben aus frischer Erde und verwandeln sie immer wieder in alles, das fließt, wie das rinnende Wasser, das den Berg furcht.

 

Doch wenn sie nicht zur Höhe ihrer Verwandlung gelangen, fallen sie mit der Zeit in Traurigkeit und am Ende verwelkt ihre Schönheit. Begegnen wir ihm auf seiner Höhe, dem Volk des Waldes, aufrecht und standhaft, fühlen wir wie die Welt gut eingerichtet und wie es möglich ist, etwas einmalig Schönen zu begegnen, der mütterlichen Erde. Beständig leben sie ihre Geschichten. Wenn sie beginnen, ihre Geschichten zu erzählen, schaun sie nach vorn, schauen dem Licht entgegen und sofort legt sich das Licht auf ihre Hände, auf ihre Schultern und erstrahlt in ihren Gesichtern. Langsam sprechen sie und ich verstehe, sie sprechen von den Bergen, dem Fluss, vom Meer, den Bäumen und den Vögeln, weil sie nach vorn sehen und ihre offenen Hände ausstrecken, die Handflächen wie Muscheln nach oben geöffnet. Ich kann nicht alle ihre Worte wiederholen, manche erinnere ich nicht, viele verstand ich nicht und manche hörte ich nicht richtig, weil ein Windstoß sie ihnen von den Lippen riss. Doch erinnere ich Blicke und Worte geformt wie ein Lied, Worte fast sichtbar, die einen Raum in der Luft mit ihrer Form ausfüllten, Worte, die Dinge herbeiriefen, die der Name der Dinge war. Sie rufen an, rufen herauf, zeigen und benennen ihre Geschichten: den Wind, die Frische der Wasser, das Gold der Sonne, die Stille.

 

Zu einer Begenung mit dem Waldvolk

 

Auch wenn das Leben mich umhertieb und das Menschengeschlecht immer mehr von seinem Charme verliert, meine Liebe für die portugiesische Landschaft blieb so groß und rein wie in meiner Kindheit. Immer gefällt es mir zu wandern, da ist ein Impuls, der mich hinaus in die Ferne treibt. Für einige Zeit war er von anderen Leidenschaften untergraben, wurde aber stärker, wenn ich allein war und um mich Stille. Wenn ich nun meine großen Wanderungen mit Bernd unternehme, und dann auf der Erde ausruhe, den Himmel betrachtend, die Wolken, die Berge und die Wälder, berührt mich diese Stummheit seltsam. Wenn du einmal eine Nacht in offener Landschaft verbringst, musst du wissen, dass während du schläfst, eine geheimnisvolle Welt aus ihrer Einsamkeit und Stille erwacht. In dieser Zeit singen die Quellen kristalliner und die Feuchten bedecken sich mit kleinen Flammen. Alle Berggeister kommen und gehen frei umher und in der Luft schwebt Flüstern, unmerkliche Geräusche, als hörten wir die Zweige wachsen und das Gras aufschießen! Es gibt das Recht des Tages, er ist das Leben des Seienden, doch gibt es ebenso das Recht der Nacht, das Leben der Anderen, von allem, was war und sein wird. Ungewohnt macht es Angst. Sternschnuppen schlittern über unsere Köpfe. Die Hirten kennen die Namen aller Sterne. Um mich herum setzen sie ihre stille Reise fort, fügsam wie eine große Schafherde und für Momente stelle ich mir vor, dass einer dieser Sterne, der zarteste und leuchtendste, vom Wege abkam und sich auf meiner Schulter niederlässt!

 

»Um Portugal, das wirkliche Portugal kennen zu lernen, mythisch, geheimnisvoll, die Wurzeln, mußt du zum Douro gehen. Denn der Douro ist ein Mann...« sagt Miguel Torga.

 

Heute setze ich meinen Weg an jenem Fluß nur in Träumen fort. Noch immer ersteige ich und gehe an den gleichen Orten hinab, wo ich vor langer Zeit war. In Wirklichkeit kann man nicht mal mehr eine Foto von ihnen machen. Doch noch immer sehe ich die reinen Weiden, die Weingärten sich spiegeln im Fluß, wo die Eichen nach ihrem Wasser ausspähen, welches die Felsen herabstürzt, die in der Sonne gleißen, die gleichen Felsen und die gleichen Brunnen mit dunkler Tiefe vom gesammelten Schlamm und dieser Geruch, der direkt in meine Nüstern steigt wie das beste Parfüm. Geruch von Schlamm und Forellen, das Grün der Farne, das Leuchten der Moose, des Heidekrauts und der Myrte.

 

Auf seiner größten Strecke können wir das Wasser meines Flusses nicht fließen hören, doch träumend betrachte ich ihn noch immer im Gehen.

 

Ich glaube, daß es in meinem Verhältnis zum Douro etwas Ähnliches gibt, wie das Verhältnis der Kelten zu Quellen, Brunnen und Wasserläufen. Etwas wie ein tiefer Kult, eine Mischung aus Erstaunen, Respekt und Verehrung. Drüber hinaus, dass mein Mann Bernd Markowsky ein großer Wanderer ist, der viele Orte kennt, war es in diesem ausufernden dourischen Plaid, dass er wie Miguel Torga die tieferen Wurzeln des portugiesischen Volkes fand, das er das Waldvolk nannte. Im Douro voller natürlicher und menschlicher Größe. Der Douro ist wahrhaftig ein männlicher Fluß, veril, in tiefer Hochzeit mit den Bergen und den Ufern, sie befruchtend und mit Schönheit einfangend, eine große Anzahl von Menschen und Ländereien einbeziehend und sie vereinend.

 

Welche Wege sind wir in den Bergen Nordportugals nicht gegangen! Wie viele Berge, Flüsse und Täler möchte ich wieder besuchen und mit dieser Wiederbeatmung meine Erinnerungen voller deutlich klarer Bilder in dieses Buch überführen. Diese Wanderungen öffnen uns einen anderen Zeithorizont und machen es möglich, die fremden Kulturen meiner Heimat kennen zu lernen, so einfache Menschen, und das helle Brot verschwenderischer Zeit mit ihnen zu brechen. Was ich auf Reisen mehr als alles liebe, ist die Berührung mit den Menschen, die von einer Landschaft geformt wurden, und die wiederum der Landschaft Gestalt geben. Der Geschichten sind viele von unseren Begegnungen mit dem Waldvolk, das seine Wurzeln beharrlich tief in der Erde birgt.  Wie Bernd sagt: Sie glauben noch an die Wiedererfindung des Zyklus von Geschichten, bewahrt in ihren Legenden, die von Zauber durchdrungen sind und von alle Elemente und Kreaturen einschließender Brüderlichkeit. Auch wenn wir nicht viel über ihre Riten und Initiationen wissen, bleibt doch niemand unangerührt, wenn sie zu sprechen beginnen. Wort für Wort erreicht uns eine Kraft, die nur einen Wunsch lässt: zu Ende zu hören, auch wenn wir zu wissen meinen, wie es weiter geht.

 

Sie erzählten uns, daß es in alten Zeiten sehr große Wölfe gab, die »Aznaes« hießen und kleinere, die »Servaes« genannt wurden. Alle Berge ringsum waren Lebensraum von Wölfen und Eichen.

 

Heute ist es, als ob alle Dörfer ringsum die Heimat der Saudade wären, Orte wehmütiger Erinnerung an jeden, der auswanderte und an jeden, der blieb. »Heute machen wir keine Wolfsjagden mehr und jagen keine Wildschweine wie früher. Die Wölfe, selbst der Teufel kann das nicht verstehen, sind geschützt, doch ähneln sie mehr ausgesetzten wilden Hunden.«

 

Die Amsel flirtet auf unseren Wegen, die Schwalben suchen ihr Mahl, immer tanzend, integraler Teil der Musik des Lebens. . . was wollen wir mehr?

 

Wenn der Häher über unseren Köpfen flattert, wenn dort hoch oben der Adler unsere Schritte beobachtet, zu gleicher Zeit den zwischen dem farbigen Grün sich versteckenden Kaninchen oder Rebhühnern auflauernd. . . was wollen wir mehr?

 

Immer bin ich fasziniert von der Erhabenheit des Adlers, fliegend versucht er die Berghänge zu schauen. . . schöner Freund!

 

Paralleles Universum zur gegenwärtigen Zivilisation ist das Waldvolk der letzte Hüter der großen ewigen Geheimnisse und des Heiligen. Schicksalhaft konfrontiert mit der Notwendigkeit in zwei Welten zu leben. Manche fühlen sich schon wie verloren im Nebel des Vergessens. Die Welt, an die sie glauben, vergeht, ist fast schon verschwunden. Wir kommen nur zu ihnen, wenn wir einem alten Ruf folgen. Ihre Geschichten, sie alle, sprechen uns vom Leben. Sie sind schlicht, doch voller Lehren.

 

Mit besonderer Freude zeigt mir meine Erinnerung Tage, die wir in Gesellschaft eines von ihnen verbrachten. Sein Name ist Toninho von den Vögeln und seine Stimme vermischt sich mit einem Fluß kristallklaren Wassers.

 

Die Sonne lag auf seinen Händen und Armen. Er blieb eine Weile still, dann begann er langsam zu sprechen. Ich verstand, daß er mit den Steinen sprach, denn er blickte nach vorn auf einen Felsen und streckte seine Hand nach ihm aus. Es war eine kleine, klare Rede, irrational und sie schien wie das Licht, das alle Dinge im Aufleuchten ausschnitt und zeichnete, große, wie den Felsen dort vorn. Und seine Worte vereinigte alle zerstreuten Gesichter irdischer Freude, der Freude, auf Erden lebendig zu sein. Er rief sie an, er zeigte sie, er benannte sie: »Meine Erde, du, Gold meiner Sonne, Stille und das Leuchten der Sterne. . . ! Dies ist die Erde, meine wirkliche Mutter, mein Haus, mein Essen, mein Schicksal und mein Leben!«

 

Dieser Mann unternahm seine Lebensreise zu Fuß, die Natur durchquerend, über Berge, durch Busch, Flußland und Untiefen. Er lernte sich selbst besser zu sehen und er nahm die wahren Werte der kleinen Dinge an, die das Leben uns bietet. Er kam auf die Höhe seiner Möglichkeiten, ließ alle Müdigkeit hinter sich, so wie sein Rhythmus mit dem Rhythmus der Natur übereinstimmt und sie sich so gegenseitig durchdringen. Toninho gelangte in den Zustand völliger Aufnahmebereitschaft. Er wurde eine andre Art Mann, ein Mann im Zustand der Gnade, ein Mann des Waldes.

 

Das dunkle Murmeln des wahren Erdensohns, dieses endlose, rastlose Fließen, vor allem mit ihm wurden alle meine Reisen am Ende eine einzige! In diesen Stunden fühlen Bernd und ich den Atem der großen Natur und den Herzschlag der Erde.

Tereza Markowsky

 


Gibt es noch Fischer? Und Bauern? Noch begegnen uns zuweilen Schäfer und Hirten.

Noch! Aber kann man denn glauben, dass es seltsamerweise auch noch Schmuggler gibt? Wie bitte? Wo denn? Pssst, nur ruhig. Damit sie noch für eine Weile existieren, werde ich nicht verraten, wo ich sie traf. Doch hört. In einem Dorf inmitten der Berge sah ich einen Mann auf der Erde sitzen und mit einem Hammer Granitsteine behauen, aus denen er sich sein Haus errichten wollte. »Diese Vorbereitung wird zwei Jahre dauern«, sagte er mir.

Ein merkwürdiges Café an der Straße! Die Fenster im ersten Stock waren immer verhängt. Männer gingen hinein und niemals hinaus. Die Besitzerin, noch jung, servierte zuweilen auch eine Ohrfeige und wer sie empfing, bat sogleich um Entschuldigung.

Ein äußerst riskanter Sprung meines Freundes Oliver auf jenen schmalen Felsvorsprung, der auf das Felsendach führte, erregte die Aufmerksamkeit der Schmuggler. Er war gesehen worden, obwohl wir an jenem Tag niemandem in den Bergen sahen, außer drei Adlern, die spielerisch die Felsen umkreisten. Im Café sprach ein Mann über diesen Sprung.

»Ihr habt mich gesehen?«, fragte Oliver.

»Wir sahen drei von vier Adlern«, antwortete der Mann. Mein Freund war der vierte. Sie nennen sich Adler. Aus überschäumender Lebensfreude hatte er ein uraltes Initiationsritual vollzogen. Auf dem Felsendach hatte er einen vor langer Zeit behauenen Stein gesehen, der auf der einen Seite einen Totenschädel trug, auf der anderen ein Kreuz mit Wegzeichen. Drei von vier Adlern bedeutete, dass er ihrer Ansicht nach einer von ihnen war.

»Ich sah sofort, dass du ein Schmuggler bist. Warum? Was ist ein Schmuggler? Jemand, der sich auf seinen Platz setzt und sich umschaut, als gehöre ihm alles. Selbst, wenn ihm nichts gehört. Dein Freund ist auch ein Schmuggler, aber ihn haben sie schon einmal gefangen, er muss sich zu viel bewegen, kann nicht lange sitzen bleiben.«

»Was schmuggelt ihr?«, fragte mein Freund.

»Mehl«, war die Antwort, gefolgt von Gelächter.

»Du wirst es erfahren, wenn Du mit uns gehst.«

»Mein Leben hat eine andere Bestimmung«, antwortete Oliver. Der Mann nickte verstehend und begann folgenden Diskurs:

»Ein Adler im Labyrinth. Du hattest den Weg verloren, weil du ein Letzter warst, übrig. Sicher wusste dein Vater noch etwas und gab es dir. Aber er wusste nicht woher. Das Dorf war lange verbrannt. Schon der Vater von seinem Vater kannte es nicht mehr. Ich liebe dich, ist ein trauriges Wort. Das verbrennt den Mund mit verloren. Ein Wort das ins Nichts ruft den Weg, der verloren ist. Ein Wort von Verirrten. Viele Frauen sagen immer, ich will geliebt werden, weil es nur noch wenige bewohnte Häuser gibt. Wenige Männer sagen immer, ich liebe dich, weil der Weg verloren ist. Aber es gibt unendlich viele Wege. Aber nur wenige Türen. Sagst du, ich liebe dich, um eine Tür in den Raum zu öffnen, öffnest du eine Wand ins Maul der Grabzimmer und die Wand schließt sich hinter dir. Du gehst im Dunkeln unter die Erde. Du gehst einem Fangzahn nach und denkst, einer Kerze. Jeder echte Weg ist gemeinsam und Mann und Fr au gehen ihn wie zwei Hände, die verschiedenes tun für ein Essen. Der Raum ist eng geworden, sagen sie. Dabei ist er weiter, als ich erinnere. Aber die gehen können, das sind wenige. Im Guten und im Bösen gehen. Deshalb ist er weit. Deshalb droht er verlorenzugehen. Weil ihn niemand mehr findet. Aber er wartet, für immer, für jeden mit Füßen aus Augen und Fäusten. Und töten sie den Adler, bringt ihn wieder der Traum. Und töten sie den Traum, bringt ihn wieder der Adler. Du hast das Wort gerufen und bist gegangen. Bis hier her. Dem älteren Traum nach. Du hast am Echo gelernt, zu gehen gegen das Wort. Der Traum bringt den Adler. Der Adler füttert in seinen Jungen den Traum. Der Traum bringt den Adler.«


Im Imaginären gibt es das Andere, den Anderen nicht.

 

 

 

Dietmar Kamper

Der weithin obsessive Traum der Vernunft von der Unsterblichkeit kann heute als die Hauptquelle für den Haß auf das, was sterblich ist, denunziert werden.

 

Schon deshalb bedarf es des Aufwachens. Gegen den Triumph des Lichts geht es um eine Rehabilitierung des Zwielichts, der Schattenrisse des claire-obscure,

um eine durchgeführte Logik der Desillusionierung. Dabei bekommt man es wieder mit der Notwendigkeit zu tun, zwischen Visionen und Beobachtungen wählen zu müssen.

 

Dietmar Kamper, »Bildstörungen«

 

Das Leben vergeht, doch für einen Moment hält es inne – und verwandelt sich.

 

Die Todesnähe taucht alles in eine andere Farbe.

 

Deshalb sehe ich jetzt alles immer schärfer. . .

 

 

 

Raul Brandão, Die Fischer


Ich fand dieses Tal wie verloren unweit der Ufer des Douro- Flusses und der Mündung des Côa.

 

Es gibt Orte, die ihren ureigenen Charakter besitzen.

 

Dieser hatte schon von fern gesehen einen weiblichen.

Dort eingetreten, blieb ich viele Stunden und fühlte ich mich an einem sehr alten Ort. Einem Ur- Ort, noch heute fruchtbarer Ursprung.

 

Ein Teil gehörte offensichtlich einer Frau, der andere verblieb in seiner wilden, nach oben hin unzugänglichen Schönheit. Wo die Hand des Menschen sichtbar, war sie sanft, mit Respekt für das Andere. Ich war nicht überrascht, als ich später erfuhr, dass sich hier Steinzeitgravuren finden.

 

Clarinha, die Besitzerin, steht dort inmitten ihrer Welt, ein Mädchen, das ins Licht lächelt, wissend, dass die Zukunft wie ein Saatkorn in der Vergangenheit geborgen liegt.

 

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