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Zeitreissen
    Ukraine Krieg  ·  17. Juni 2023

    Aus dem Nebel des Krieges


    Stanislaw Asseejew

    Meine Idee von Gerechtigkeit

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    Nachdem ich zweieinhalb Jahre in einem Konzentrationslager gesessen hatte, erfuhr ich, dass dessen Kommandant, ein Kriegs­verbrecher, noch während meiner Gefangenschaft in die Haupt­stadt meines Landes gezogen war und dort unbehelligt lebte. Das war im Herbst 2021.

    Folter mit elektrischem Strom, Männer, die, unter Pritschen zusammengekauert, wie Hunde bellen - in diesem Moment war alles wieder da, die ganze grauenhafte Geschichte.

    Heute, während ich dies hier schreibe, geht dieses Grauen wei­ter. Russland begeht dieselben Verbrechen in allen besetzten Ge­bieten der Ukraine.

    Um als Europäer zu verstehen, worum in dem gegenwärtigen Krieg gekämpft wird, reicht es nicht, den Fernseher einzuschal­ten. Die Medien können nicht über alles berichten. So war den meisten nicht bekannt, dass Russland bereits vor acht Jahren in Donezk einen Ort etabliert hat, dessen Namen die Einwohner kaum auszusprechen wagen ‒ die Isoljazija. Dass ukrainische Kriegsgefangene aus Mariupol nach der Aufgabe der Stadt im Mai 2022 dorthin gebracht wurden. Oder dass die im Oktober bei einem Gefangenenaustausch freigekommenen ukrainischen Frauen ebenfalls mit Strom gefoltert wurden (sie selbst sind noch nicht imstande, darüber zu sprechen).

    Und es wird kaum thematisiert, dass jeder Vorschlag, einen Teil des ukrainischen Staatsgebiets Russland zu überlassen, um den Krieg schneller zu beenden, nicht auf einen politischen Deal hinausläuft, sondern auf ein Versagen unserer gesamten Zivilisa­tion. Denn auf jedem Quadratmeter Boden, den man an Russland abträte, würde ein totalitäres Regime errichtet. Solche Konzen­trationslager gäbe es dann überall.

    Zweieinhalb Jahre habe ich wegen meiner journalistischen Tä­tigkeit in den Gefängnissen in der sogenannten Donezker Volks­republik verbracht. Den Plan, irgendwann meine Peiniger aus­findig zu machen, hatte ich schon im Isoljazija gefasst, dem Do­nezker Konzentrationslager. An diesen Ort kam ich nach sechs Wochen Keller und Folter im Gebäude des sogenannten Minis­teriums für Staatssicherheit, das von Russland in Donezk einge­richtet worden war. Um zu verstehen, worum es sich handelt, braucht man nur die Beschreibung des »Liebesministeriums« in Orwells 1984 zu lesen. Es ist verrückt, wenn eine literarische Dys­topie in der eigenen Stadt zur Realität wird.

    Im Donezker »Liebesministerium« wird mit Strom gefoltert, mit einem alten sowjetischen Telefonapparat, von dem Drähte vor allem zu den Fingern führen, oder es wird gezielt auf den Hin­terkopf geschlagen. Dass auf diese und andere Weise heute auch ukrainische Kriegsgefangene gequält werden, weiß man von Kri­minellen, die in Donezk einsitzen. Danach geht es zurück in den Keller, eine Einzelzelle von zwei mal fünf Metern, mit Plastikfla­schen für Urin statt einer Toilette, wo sich der Atem sogar im Juni in Kältedampf verwandelt. Keine Spaziergänge, keine Sonne, kein Wind ‒ nur Handschellen und eine Plastiktüte überm Kopf, wenn man zum Verhör gebracht wird. So verbrachte ich die ersten sechs Wochen meiner Gefangenschaft, um dann an einen Ort zu gera­ten, an dem ich mich in jenen Keller zurücksehnte.

    Isoljazija (Isolation). Die Geschichte des Ortes ist zu komplex, als dass ich sie hier beschreiben könnte. Die Folteranstalt wurde auf dem Territorium eines ehemaligen Werks für Isoliermaterial errichtet. Die Fabrik am Hellen Weg 11 in Donezk war nach ihrer Stilllegung einige Zeit lang ein malerischer Ausstellungsort und Kunstraum. Noch während des Euromaidan 2014 fanden hier In­stallationen, Kunstprojekte und Diskussionsveranstaltungen statt. Am 9. Juni 2014, kurz nach Beginn der von Moskau geführten Geheimdienstaktion, wurde das Kulturzentrum »Isolatsija« von Separatisten gestürmt - sie zerstörten Kunstobjekte und plünder­ten den Ort aus. Die künstlerische Leitung floh nach Kyjiw, wo das Projekt im Exil weitergeführt wurde. Die Separatisten errich­teten dort eine Militärbasis. Die Verwaltungsgebäude der ehema­ligen Fabrik und ein System von Bombenschutzräumen wurden in Gefängniszellen und Folterkammern umgewandelt.

    Für mich versinnbildlicht dieser Ort das gegenwärtige Russ­land, all das, was von Osten her gegen die Ukraine und ganz Eu­ropa vorrückt (auch wenn man das in Europa noch nicht so sehen kann). Mir kommt der von Marlon Brando gespielte Colonel Kurtz in Apokalypse Now in den Sinn: »Das Grauen.... Man muss sich das Grauen zum Freund machen. Das Grauen und der mo­ralische Terror sind deine Freunde.«

    Dieses russische KZ existiert bis auf den heutigen Tag. Hun­derte von Aussagen und Fotos beweisen, dass die Isoljazija ein System ist, ein Mechanismus zur langsamen und planmäßigen Vernichtung der menschlichen Persönlichkeit: Folter durch Strom­schläge - die Drähte werden hier an den Genitalien der männ­lichen und an den Brustwarzen der weiblichen Gefangenen be­festigt Vergewaltigung, Prügel, Sklavenarbeit, Erniedrigung, auch die Tötung von Gefangenen kommt vor (was in manchen Fällen wie ein Akt der Barmherzigkeit wirken mag). Die ausfüh­renden Organe dieses von den Separatisten unterhaltenen Folter­systems sind Psychopathen, Menschen, die zu keinerlei Mitge­fühl fähig sind und eine sadistische Freude empfinden, andere zu quälen.

    Acht Jahre lang hat sich die internationale Öffentlichkeit dafür nicht interessiert.

    Als die Bilder von Butscha um die Welt gingen, war das Entset­zen groß über die sinnlose, unfassbare Bestialität, die hier zu Tage trat.

    Für mich war die Realität der Isoljazija aus den Donezker Kel­lern in die Vororte Kyjiws gewandert, das Konzentrationslager der »Russischen Welt« ist jetzt auch hier heimisch geworden.

    Ich kam im April 2022 als Journalist nach Butscha. Im Hof ei­nes Einfamilienhauses lagen, zwischen Bäumen in der Sonne, fünf verkohlte Leichen übereinander, darunter ein Kind. Etwas wei­ter weg ein abgetrenntes Bein, benagt von verwilderten Hunden. Unsere Fotos und Videos gingen damals im Netz viral. Doch die­se Bilder dürfen nicht einfach unter »Russland« subsumiert wer­den, um sich in eine weitere Zahl zu verwandeln. Dieses »Russ­land« erfordert die Namen der Täter.

     

    Im Rahmen eines Gefangenenaustauschs zwischen Russland und der Ukraine kam ich Ende Dezember 2019 frei. Damals wur­den nicht nur Militärangehörige ausgetauscht, sondern auch Zi­vilisten. Es dauerte Monate, bis ich mich wieder an die Freiheit gewöhnt hatte. Wenn man jahrelang auf ein paar Quadratmetern lebt, führt das zum Beispiel zu einer starken Veränderung des Raumgefühls. Das Haus zu verlassen und zum nächsten Geschäft zu laufen, um ein paar Erledigungen zu machen, ist für einen ehe­maligen Gefangenen noch lange eine emotionale Herausforde­rung.

    Die größte Herausforderung jedoch wartete noch auf mich. Fast zwei Jahre nach meiner Befreiung erfuhr ich, dass der Kom­mandant und eigenhändige Folterer von Isoljazija seit Frühjahr 2019 in Kyjiw lebte und bereits hergezogen war, als ich noch in der von ihm geschaffenen Hölle lebte.

    Wie das möglich war, ist eine Frage für sich; wichtiger ist in die­sem Zusammenhang, wie man reagiert, wenn man so etwas er­fährt. Darin liegt der Schlüssel zu Sieg oder Niederlage in diesem Krieg. Und ebenso die Antwort auf das kollektive Trauma, das die ukrainische Bevölkerung zurzeit erleidet. Seit vielen Mona­ten vergeht kaum ein Tag, an dem man in den sozialen Netz­werken nicht vom Tod eines Bekannten erfährt. Die Nachrich­tenportale veröffentlichen permanent steigende Verlustzahlen. In den Städten werden Sperrstunden verhängt, fast täglich gibt es Luftalarm, und immer wieder sind die Einschläge russischer Ra­keten zu hören. Und das bedeutet neue Tote, umgekommene Frauen und Kinder, ein verstärktes Trauma derer, die am Leben geblieben sind.

     

    Bei intensiven Gefechten kommt es vor, dass Kämpfer buch­stäblich den Verstand verlieren. Das geschah auch in Sewerodonezk, im Frühsommer 2022, als es noch ukrainisch war: Der ausländische Artilleriebeschuss zwang die drei Ärzte des Be­zirkskrankenhauses dazu, bis in die Nacht hinein ununterbro­chen am OP-Tisch zu stehen, und einer von ihnen wurde wahn­sinnig, weil er den Anblick abgerissener Arme und Beine zwölf Stunden am Tag nicht mehr aushielt.

    Wenn ein Vergewaltiger, Folterer und Mörder (in der späteren Anklage finden sich alle drei Punkte) ungeschoren quasi in der Nachbarschaft lebt, wird sein Opfer ähnlich schwer traumatisiert wie jener Arzt. Meine Antwort auf diese Situation bestand darin, den Täter zum Sprechen zu bringen.

    Im kriminellen Kodex, der sich im postsowjetischen Raum ge­bildet hat, wird eine zentrale Verhaltensregel folgendermaßen ausgedrückt: Gefühle sind im Leben nichts. Natürlich betrifft das nicht das Alltagsleben. Gemeint ist damit, dass in der Haft Gefühle an und für sich als Verfehlung gelten, auch wenn man in der Sache recht hat. In einer Zelle von fünf mal sieben Metern, die sich fünfzehn Häftlinge tagaus, tagein, Wochen und Jahre, manchmal jahrzehntelang teilen, übertragen sich Emotionen schneller als jedes Virus. Daher die Regel, dass man für das Offen­baren von Gefühlen während eines Streits bestraft wird, egal wor­um es geht. Diese Regel habe ich perfekt verinnerlicht.

    Sobald ich gehört hatte, dass Palytsch1 ‒ so wurde der Kom­mandant von Isoljazija genannt ‒ in Kyjiw lebte, wandte ich mich an meinen Freund Christo Grozev vom Recherchenetzwerk Bellingcat und bat ihn, diese Information, wenn möglich, zu verifi­zieren. Einen Monat später hatten wir jemanden gefunden, der Palytschs Adresse in Kyjiw kannte.

    Das Geld, das unser Informant für seine Dienste verlangte, war beschafft, die Polizei war unterrichtet, die Verhaftung würde in Kürze erfolgen. Doch während unserer Ermittlungen hatte sich herausgestellt, dass Palytsch bereits im Frühjahr 2019 aus Donezk nach Russland geflohen war, weil er befürchtete, von sei­nen »Kollegen« umgebracht zu werden. Am 23. April reiste er wieder in die Ukraine ein und wurde vom SBU in Empfang ge­nommen, dem er sein Wissen im Tausch gegen sein Leben angeboten hatte. Und der SBU, der ukrainische Inlandsgeheimdienst, war es auch, der ihn schließlich wieder freiließ.

    Nun kam der Dienst unserem Informanten auf die Spur und zwang ihn, Palytschs Adresse herauszugeben, denn die Verhaf­tung eines Kriegsverbrechers durch die Polizei aufgrund von pri­vat ermittelten Daten hätte dem SBU ein schlechtes Zeugnis aus­gestellt.

    Wie auch immer, am 9. November 2021 wurde Palytsch von Beamten des ukrainischen Geheimdiensts in Kyjiw verhaftet. Der Mann sitzt jetzt seit einem Jahr in einem Sondergefängnis des SBU. Er sagt zu seinen Verbrechen und zu denen seiner russi­schen Hintermänner aus und muss mit einer langen Haftstrafe rechnen.

    So begann die Geschichte des Justice Initiative Fund (JIF). Nach Palytschs Verhaftung überlegte ich, wie man Kriegsverbre­cher festsetzen könnte, die sich nicht in der Ukraine aufhalten. Russland, so viel stand fest, würde sie niemals ausliefern. Die Auslieferung von Tausenden von Bürgern wäre für jedes Staats­oberhaupt, sei es Wladimir Putin oder ein liberaler Präsident, das Ende seiner politischen Laufbahn. Die Festnahme russischer Kriegsverbrecher ist also ein Problem, das nur die Ukraine lösen kann.

    Ich nahm mir vor, aus der Erfahrung Israels zu lernen und die US-amerikanische Praxis zu studieren. Die Regierung in Wa­shington hat Kopfgelder etwa auf die Anführer der Terrormiliz Al-Kaida und des Islamischen Staats ausgesetzt, und die israeli­schen Dienste haben nach dem Zweiten Weltkrieg in der ganzen Welt Naziverbrecher aufgespürt. Das Problem ist nur, dass die russischen Verbrecher nicht über die ganze Welt verstreut sind. Die meisten Russen haben ihr Land noch nie verlassen. In den zwanzig Jahren seiner Herrschaft hat Wladimir Putin eine Be­völkerungsklasse von unglaublich niedrigen Moralvorstellungen und Erwartungen geschaffen. Der russische Gesellschaftsvertrag sieht ungefähr so aus: Ihr lasst uns in Ruhe, dafür lassen wir euch regieren. Männer, die erst in der Ukraine entdeckt haben, was eine Kloschüssel ist, und aus dem geplünderten Butscha Wasch­maschinen nach Sibirien geschafft haben, werden niemals in Ar­gentinien oder Paris auftauchen, sondern nach dem Krieg nach Russland zurückkehren. Dort müssen wir sie herausholen.

    Auf der Webseite des Justice Initiative Fund (JIF) sind Perso­nen aufgeführt, die von ukrainischen oder internationalen Straf­verfolgungsbehörden eines Kriegsverbrechens der RF in der Uk­raine beschuldigt werden (Isoljazija, Butscha, der Abschuss der MH17 im Juli 2014 und andere). Neben ihren Namen steht je­weils ein Betrag in Dollar, die der JIF durch private Spenden auf­gebracht hat. Dieser Betrag wird unter einer von drei Bedingun­gen ausgezahlt:

    Dass jemand einen Kriegsverbrecher an die Ukraine ausliefert;

    dass jemand Informationen bereitstellt, die zu Festnahme und strafrechtlicher Verfolgung eines Kriegsverbrechers führen (zum Beispiel seinen Aufenthaltsort an der Front, in der Besatzung oder in Russland);

    dass jemand neue, im Ermittlungsverfahren noch nicht enthal­tene Beweise für das jeweilige Verbrechen beschafft.

    Haben wir die entsprechenden Informationen erhalten, bezah­len wir den Informanten und übergeben die Daten an die ukrai­nischen Behörden - alles Weitere ist deren Sache. Ich habe genug von Gerichtsverhandlungen, bei denen es keinen Angeklagten gibt, weil er nach Russland geflohen ist. Deshalb befragt der JIF keine Zeugen oder Opfer - das tun die mit der Beweisaufnahme befassten Institutionen, von den zahlreichen NGOs bis hin zu den Ermittlern des Internationalen Strafgerichtshofs. Er beschäf­tigt sich auch nicht mit der Identifizierung von Kriegsverbre­chern - auch dafür gibt es genug Spezialisten. Was weder in der Ukraine noch sonst irgendwo gemacht wird, nämlich für die Auf­findung identifizierter Beschuldigter zu zahlen, das machen wir. Wir sind dabei auf die ukrainischen Strafverfolgungsbehörden an­gewiesen, denn der JIF sucht ausschließlich Personen, die offiziell als Beschuldigte geführt werden. Dadurch wird gewährleistet, dass wir uns nicht etwa von Rachsucht oder anderen Emotionen leiten lassen.

    Meine Idee von Gerechtigkeit mündet in die Forderung, dass ein Kriegsverbrecher leibhaftig vor einem ukrainischen oder in­ternationalen Gericht erscheint. Doch noch fehlen dafür die Vor­aussetzungen. Die internationale Rechtsprechung signalisiert zwar Unterstützung, kann aber nicht mehr tun, als unter tiefen Seufzern Hunderte von Fällen von einem Ordner in den anderen zu verschieben und im Endeffekt eine Verhandlung ohne Ange­klagten durchzuführen. Die Angeklagten liegen irgendwo zu Hause auf dem Sofa, zum Beispiel in Sibirien oder im Fernen Os­ten, denn dort kamen sie her, die »Schlächter von Butscha«. Im Grunde möchte die westliche Welt, dass wir alles vergessen oder, schlimmer noch, verzeihen. Aber Verzeihung ohne Gerechtigkeit bedeutet Schwäche - es ist leicht, Leuten zu vergeben, an die man nicht herankommt. Ich persönlich halte es mehr mit Israel und dem Alten Testament.

    Ich bin von einem Opfer zu einem RusHunter geworden, wie mich ein britischer Journalist in einem Interview scherzhaft ge­nannt hat. Der JIF ist eine Strategie für die nächsten Jahre oder vielleicht Jahrzehnte. Damit sie funktioniert, müssen die Gefühle verschwinden.

    Ähnlich war meine Haltung zu Butscha. Als wir den Haufen verbrannter, von Hunden benagter Leichen gesehen hatten, nah­men wir unsere Kameras, machten Fotos und Videos und holten die Vertreter zentraler westlicher Medien her, die bereits vor Ort waren, bei einem Massengrab am anderen Ende der Stadt. Wir packten unsere Gefühle weg und zeigten ganz Europa Russlands Gesicht. So wurde das Grauen zum Freund, und für mich ist das schon ziemlich lange so.

    Als Palytsch, der heute stammelnd auf die Fragen seiner Er­mittler antwortet, uns in der Isoljazija zwang, sowjetische Lieder zu singen, während in der Nachbarzelle die mit Stromschlägen Gefolterten schrien, waren Grauen und Schock noch etwas Frem­des, Äußerliches. Doch mit der Zeit lernte ich, sie zu verinner­lichen, sie als Teil meiner Arbeit zu betrachten. Wenn ich über­leben und wieder rauskommen würde, so sagte ich mir damals, würde ich über all das sprechen und schreiben müssen. Natürlich hätte ich in meinen kühnsten Träumen nicht daran gedacht, dass ich den KZ-Kommandanten tatsächlich vor Gericht bringen wür­de. Damals schienen mir die Stunden, Tage, Wochen, Monate in der Isoljazija endlos, es schien, als würden die Lieder und die Schreie niemals aufhören. Und doch müssen Krieg und Leiden mit der Zeit alltäglich werden, damit man sie besiegen kann.

    Ein koreanischer Schriftsteller schrieb einmal, Menschlichkeit lasse sich nach der Fähigkeit zur Empathie bemessen, zum Mit­empfinden fremden Schmerzes. Wer sogar in der Hölle Mitgefühl spüre, habe das Paradies verdient. Auf die reale Hölle des Kriegs lässt sich der Gedanke mit Sicherheit nicht beziehen, er würde die Transformation kollektiver Traumata in Erfahrung eher behin­dern. Fügt man die täglichen Qualen in der Isoljazija mit dem, was seit dem 24. Februar in der Ukraine geschieht, zu einem Bild zusammen und versucht, sich das Ausmaß von entsetzlichem Leid auch nur eine Sekunde lang vorzustellen, verliert man den Verstand. Während ich diese Zeilen schreibe, sind allein nach offi­ziell bestätigten Zahlen mehr als dreitausend unserer Soldaten in russischer Gefangenschaft; ein Großteil von ihnen wurde oder wird mit Strom gefoltert.

    Das Trauma des Krieges muss zur Erfahrung werden, die Er­fahrung zur Strategie und die Strategie zur täglichen Arbeit. Wenn ich auf der Webseite unseres Fonds die Fotos derjenigen ansehe, die in der Isoljazija gefoltert haben, sind Trauma und Hass ver­schwunden. Ich sehe stattdessen mich, wie ich die Folterkeller überstanden und darüber ein Buch geschrieben habe, das bereits in elf Sprachen übersetzt wurde. Und ich sehe den Betrag, den wir für Informationen über jeden dieser Verbrecher bereit sind zu zahlen. Ihre Sturmhauben und Masken sind abgerissen, ihre Namen stehen da, schwarz auf weiß, ihre Gesichter werden der ganzen Welt gezeigt. Das Böse muss einen Namen haben, und die­se Leute werden als Kriegsverbrecher in die Geschichte eingehen, auch für ihre eigenen Familien.

     

     

    1 Palytsch ist eine verschliffene Form des Vatersnamens Pawlowitsch und gleichzeitig eine Verballhornung von palatsch (russ.): Henker, Peiniger, Folterer. Anm. d.Ü.

     

     

    Aus dem Russischen von Christiane Körner

    Die Gegenwart der Ukraine

    Seit dem Angriff Russlands auf die Ukraine sind Tausende Menschen umgekommen, Hunderttausende haben Terror und Zerstörung erlitten, Millionen Bürger sind geflohen. Dennoch: unterstützt vom Westen, halten Staat und Gesellschaft stand. Aus dem Nebel des Krieges entsteht eine neue, ungewisse Zukunft. Die Autorinnen und Autoren des Bandes – Schriftsteller, Wissenschaftlerinnen und Aktivisten, Künstlerinnen und Journalisten – halten die Gleichzeitigkeit fest: die Ruinierung des Lebens und seiner Orte; die zivile und militärische Selbstbehauptung; den Willen, eine neue, friedliche Heimat zu schaffen. Sie beschreiben und analysieren die Situation der traumatisierten Menschen im Krieg – ihre tiefgreifende Veränderung, ihre Fähigkeit, sich in sehr unklaren Zeiten dennoch wiederzufinden.


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