Herrmann Graf Hatzfeldt
Vorwort zum Buch "Der Wald in uns" von Elisabeth M. Mars und Markus Hirschmann
Als ich vor 35 Jahren den Forstbetrieb der Familie übernahm, kannte ich den Wald vor der Haustür. Von dem Wald in mir hatte ich keine Ahnung. Das sollte sich ändern.
Seit Beginn des 19. Jahrhunderts ist der frühere Buchen / Eichen Mischwald in den Typus Fichtenforst umgewandelt worden, wie er heute das Landschaftsbild in Mitteldeutschland prägt: gleichaltrige Fichten in Reih und Glied, genutzt durch großflächigen Kahlschlag (oder Stürme) und als Monokultur neu aufgeforstet, mit einzelnen, von Wild zerbissenen Laubbäumen durchsetzt. In den letzten 20 Jahren hat sich das Waldbild jedoch so grundlegend verändert, dass meine Erblasser – lebten sie noch – ihren Augen nicht trauen würden. Was ist geschehen?
Zwei Entwicklungen treffen zusammen. Auf den ersten Blick springen die verheerenden Folgen von „Kalamitäten“ ins Auge: Schneebruch, Sturmwurf, Trocknis und Luftschadstoffe haben aufgerissene Bestände, schüttere Kronen und riesige Freiflächen hinterlassen.
Seit der Begegnung mit Wiebke, Lothar und Kyrill ist der Kindertraum vom dunkel rauschenden Altersklassenwald ausgeträumt.
Das Erwachen war auch für mich mehr als ernüchternd.
Auf den zweiten Blick jedoch sind bereits hoffnungsvolle Ansätze einer neuen Art der Waldbehandlung zu sehen: auf den Freiflächen wird natürliche Sukzession zugelassen, der Zaunschutz gegen Wildverbiss ist abgebaut, die aufgelichteten Bestände sind mit jungen Buchen unterbaut, die ganze Fläche beherbergt nun eine vielfältige, artenreiche Mischung von Bäumen und Begleitvegetation. Forst wird wieder zu Wald.
Wir Waldleute nennen diese ökologische Neuorientierung „naturgemäße Waldwirtschaft“. Im krassen Unterschied zur industriellen Forstwirtschaft, die den Wald als eine Art Holzfabrik begreift, ist ihr Leitbild „Naturnähe“. Wie der Name schon sagt, zielt das Verfahren auf eine Annäherung an eine natürliche Entwicklung, wie sie ohne massive menschliche Eingriffe zustande käme. Das Ziel ist jedoch nach wie vor Wirtschaften: weder die Rückkehr zum Urwald, noch Naturbeherrschung, sondern ein kluges Haushalten im Einklang mit der Natur – Schutz, Pflege und Nutzung in einem.
Was habe ich in diesen 35 Jahren des Umbruchs erfahren und gelernt?
Lektion 1: Der Wald ist kein Holzacker
Wald muss anders gesehen werden als mir beigebracht wurde – nicht als eine Ansammlung von Bäumen zum Zweck der Holzproduktion, sondern als ein dauerhaftes, komplexes, dynamisches Ökosystem, das elastisch auf chaotische Störungen reagiert und im Lauf seiner Evolution einen hohen Grad an
Funktionstüchtigkeit erworben hat. Es ist erstaunlich und Ehrfurcht gebietend, wie dieses System sich selber organisiert, immer wieder reguliert und ständig erneuert. Empathie mit dem Wald, als lebendiger Organismus, lässt ihn wie eine andere Art Wirtschaftsmacht erscheinen, deren geheime Listen gleichsam abgelauscht werden können, um sie zu imitieren, zu kopieren und sich nutzbar zu machen. Aber dafür muss man sich abgewöhnen, den Wald als eine verfügbare Naturressource zu begreifen, die wir Menschen nach eigenem Ermessen und Maßstäben aufbauen, gestalten und ausnutzen können, dürfen oder gar sollen.
Lektion 2: Ökologische Waldwirtschaft ist ökonomisch
Die naturgemäße Waldwirtschaft ist ein klassisches Beispiel dafür, dass es sich lohnt, mit der Natur zusammen zu arbeiten anstatt gegen sie. Wenn die in Wald-Ökosystemen ablaufenden natürlichen Prozesse vorsichtig gesteuert und genutzt werden, können menschliche Eingriffe auf das absolut Notwendige reduziert werden. Damit entfällt in der naturgemäßen Waldwirtschaft ein großer Teil der finanziellen, personellen und materiellen Aufwendungen, die bei konventioneller naturferner Bewirtschaftung früher nötig waren. Da das Betriebsziel jetzt dicke,wertvolle Einzelbäume sind, die je nach Marktlage und Bedarf eingeschlagen und vermarktet werden können, verbessert sich langfristig die Ertragssituation. Zugleich sinkt das Betriebsrisiko: naturnah bewirtschafteter Mischwald ist nachweislich stabiler und elastischer gegenüber „Kalamitäten“ als traditionelle Einheitsforsten. Unökologisch zu wirtschaften ist teuer und riskant. Hätte ich nicht rechtzeitig umgesteuert, wäre mein Forstbetrieb heute wahrscheinlich am Ende.
Lektion 3: Wir müssen neu denken
Die ökologische Neuorientierung setzt einen grundlegenden Wandel im menschlichen Naturverständnis und darum auch Selbstverständnis voraus. Die Umstellung in der Waldwirtschaft ist ohne eine Umstellung in den Köpfen nicht möglich. Sie braucht ihre Zeit. Erst habe ich als Eigentümer umdenken müssen, dann mussten die Revierleiter davon überzeugt werden, überkommene Denk- und Verhaltensmuster aufzugeben, schließlich muss die Umsetzung schrittweise erprobt und verbessert werden. Das alles hat nicht nur den Wald verändert, sondern auch uns. Offenbar hängt der andere Umgang mit der Natur auch mit einem anderen Umgang der Menschen miteinander zusammen. So wie der Wald heute vielfältiger und vitaler als früher ist, sind meine Mitarbeiter und ich engagierter und kreativer geworden. Die alten hierarchischen Strukturen wurden aufgelöst und dabei neue, ungeahnte Schaffenskräfte freigesetzt. Bei den Menschen so wie im Wald. Wie wir im Wald, so der Wald in uns.
Dieser Zusammenhang ist Thema des vorliegenden Bandes. In mehreren Essays wird er von verschiedenen Seiten beleuchtet und erhellt. Hinzu kommen Texte aus den Werkstätten für Kreatives Schreiben, die direkt im Wald stattfanden. In ihnen können Sie als Leser die intensiven Lernprozesse ahnen, die durch kreative Methoden entstehen. Ich möchte diesen Texten noch ein paar weiterreichende Gedanken vorausschicken, die sich aus meinen persönlichen Erfahrungen als Waldwirt ergeben.
In dieser Partnerschaft sind Wald und Menschheit gleichberechtigte Teilhaber. Es steht uns nicht zu, die Vorherrschaft zu beanspruchen und Naturgüter zu unserem alleinigen Nutzen auszubeuten.
Wir leben mit und in der Natur. Eigentlich sind wir Mensch gewordene Natur. Genauso wie der Wald in den globalen Naturhaushalt eingebunden ist, sind wir es auch. Noch nie ist das so deutlich geworden wie jetzt, da das globale Klima durch menschliche Eingriffe verändert wird und die Folgen den Wald genauso treffen wie den Menschen. Beide brauchen wir für unser Leben denselben Raum und dieselben Naturelemente – Erde, Wasser, Luft und Sonne. In dieser Partnerschaft sind Wald und Menschheit gleichberechtigte Teilhaber. Es steht uns nicht zu, die Vorherrschaft zu beanspruchen und Naturgüter zu unserem alleinigen Nutzen auszubeuten. Zudem ist es unklug: wir zerstören dadurch die Lebensgrundlage nicht nur von Tieren und Pflanzen, sondern auch unsere eigenen. Genau das geschieht heute.
So gesehen ist das Umweltproblem ein menschliches Problem. Wir brauchen die Natur; die
Natur braucht uns nicht. Das Problem ist eine gestörte Beziehung des Menschen zur
Natur und primär zu sich selbst. Die Veränderungen, die wir in der äußeren Natur anrichten, betreffen uns selbst. Wir spüren sie zunehmend am eigenen Leib und an unserem innersten Befinden. Die Frage, wie wir in der Umwelt leben wollen und welche Umwelt wir haben wollen, hängt deshalb eng damit zusammen, wie wir sie sinnlich erfahren. Das ist eine Frage der sinnlichen Wahrnehmung, nicht nur der Dinge, sondern auch all der Affekte, Emotionen und Vorstellungen, die Natur in uns auslöst.
Die Urbanisierung und Globalisierung der industrialisierten Welt hat zur Entfremdung der Gesellschaft von der Natur geführt. Die sinnliche Erfahrung und das Gefühl für die gesellschaftliche, ökologische und kulturelle Bedeutung des Lebensraumes Wald geht zunehmend verloren. Die große Herausforderung der Menschheit im 21. Jahrhundert ist aber eine ökologische und eine kulturelle: eine nachhaltige Entwicklung im Einklang mit der Natur.
Nirgendwo kann der symbiotische Zusammenhang
zwischen Mensch und Natur eindringlicher wahrgenommen werden
als im Wald. Der Wald – wir im Wald und der Wald in uns – ist einer
der letzten Erlebnisräume, in denen dies ganz konkret
in voller Sinnlichkeit möglich ist.
Diesen Raum gilt es zu nutzen.
Der naturgemäß bewirtschaftete Wald ist hierfür besonders gut geeignet. Nicht nur, weil sein Verständnis ganzheitliches, vernetztes Denken erfordert und fördert. In ihm zeigt sich auch, dass ein verantwortungsvoller Umgang des Menschen mit der Natur zu ihrem und seinem eigenen Nutzen auf Dauer möglich ist – allerdings nur, wenn er die Gesetze des Waldes respektiert und er sich ihnen gemäß verhält. Naturgemäße Waldwirtschaft und ihr Leitbild der Naturnähe wird so zu einem Modell für Nachhaltigkeit: exemplarisch können hier die Bedingungen, Verfahren und Auswirkungen einer nachhaltigen Entwicklung demonstriert werden, einer Wirtschaftsweise also, die dem Lebenszusammenhang dient und ihn nicht zerstört.
Die tatsächliche Entwicklung geht bekanntlich in die entgegen gesetzte Richtung: sie ist nicht nur nicht nachhaltig, sondern zerstörerisch. Das gilt auch für den Wald. Wie Robert Pogue Harrison 1992 in seiner bedeutenden Studie „Forests – The Shadow of Civilisation“ ausgeführt hat, ist das Zurückdrängen und die Zerstörung der Wälder ein Spiegelbild der Naturvergessenheit der westlichen Zivilisation. Wälder waren das erste Opfer der globalen Ausdehnung, sie sind heute immer noch Opfer und werden es künftig bleiben. Mit der weltweiten Zerstörung des Waldes geht aber mehr verloren als nur das größte terrestrische Ökosystem mit seinem Reichtum an Biodiversität und Habitaten. Denn der Wald und die Vorstellungen, die sich Menschen im Lauf ihrer Geschichte von ihm gemacht haben, sind ein integraler Bestandteil der menschlichen Kultur. So ist Wald, neben allem anderen, auch ein unersetzliches Reservoir für Erinnerungen, Träume, für Mythen, für Hoffnungen und für Ängste. Er ist, als Das-Ganz-Andere, der äußere Bezugspunkt unserer Zivilisation, gleichsam ihr Schatten. Wir werden heimatlos, wenn dieser Schatten verschwindet. Davon handeln die folgenden Beiträge. Darum dieses Buch.
Hermann Graf Hatzfeldt, Jahrgang 1941, Wissen / Sieg
Herrmann Graf Hatzfeldt ist einer der bedeutendsten Waldbesitzer in Deutschland; ehemaliger. Vorsitzender der „Arbeitsgruppe Deutschland“ im „Forest Stewardship Council“ (FSC)
Das Titelbild ist eine Zeichnung von Charles Darwin.
Darwin selbst war es, der am Baummodell der Abstammungslehre zweifelte: „Der Baum des Lebens sollte vielleicht besser die Koralle des Lebens genannt werden“, notierte er 1837, 22 Jahre vor der Veröffentlichung seines bahnbrechenden Werkes über den Ursprung der Arten. Darwins Koralle markiere eine zweite Säule seines evolutionären Denkens, die sein späterer Ruhm verstellt habe, sagt Horst Bredekamp, Autor des Buches Darwins Korallen.. Die Vorstellung vom Korallenstrauch zeige deutlich, dass Darwin „nicht die Richtung, sondern den Zufall und nicht die Hierarchisierung, sondern die Vielfalt im Auge“ hatte.
Schon vor 2000 Jahren findet sich die Koralle als Sinnbild für die Veränderungskraft der Natur in Ovids Metamorphosen. Über Jahrhunderte hinweg habe das Epos damit die Möglichkeit zu evolutionärem Denken geboten, ohne dabei Neuschöpfungen durch die Natur zu behaupten, sagt Bredekamp
Für die Genforschung war das Baummodell dennoch lange fruchtbar. Erst in jüngster Zeit hat man sich davon verabschiedet. Denn Austausch und Entwicklung von Genen lassen sich mithilfe des Computers allenfalls als Netzstruktur darstellen, der „tree of life“ trägt nicht als Symbol. Ein Grund mehr für Bredekamp, den „Holzweg“ zu verlassen und auf ein „Zeitalter der Koralle“ zu hoffen.
Der Tagesspiegel, 21. 01. 2009
Hier einige Links zum Weiterlesen:
"Der Waldgraf von Königswusterhausen" (Welt am Sonntag)
"Nach Wiebke war alles anders"
(Holzkurier)
„Was für eine schöne Aufgabe: den Wald zu verbessern.“
Interview mit Hermann Graf von Hatzfeldt (Öko-Institut)
"Ich sehe es übrigens als Vorteil, dass ich nicht Forstwirtschaft studiert habe –
ich denke, dass ich dann bestimmte Dogmen wie die Kahlschlagswirtschaft nicht so vehement in Frage gestellt hätte."
Offener Brief an die Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft
"Experten, Waldbesitzer und Verbändevertreter fordern Abkehr von Aufforstung und Holzfabriken"
August 2019
"Das globale Problem der Entwaldung löst heutzutage bei Stadtbewohnern unwahrscheinliche Reaktionen aus, nicht nur wegen seines enormen Ausmaßes, sondern auch, weil Wälder in der Tiefe des kulturellen Gedächtnisses das Korrelat menschlicher Transzendenz bilden. Wir nennen es den Verlust der Natur oder der Verlust des Lebensraums für wild lebende Tiere oder der Verlust der biologischen Vielfalt, aber dem ökologischen Problem liegt möglicherweise eine viel tiefere Besorgnis über das Verschwinden von Grenzen zugrunde, ohne die der menschliche Wohnsitz seine Grundlage verliert. "
Pogue Harrison
Aus dem Buch "Der Wald in uns":
"Meine Oma erzählt immer, dass sie mit den Pflanzen redet, die deshalb viel besser wachsen. Dann müsstest du ja demnächst von den vielen Besuchern hier einen richtigen Wachstumsschub bekommen. Ich vermute, als Baum genießt du jeden Augenblick. Du lebst quasi in ständiger Meditation. Wenn es für mich ein nächstes Leben gibt, dann möchte ich ein Baum werden – aber nur einer im Wald."
Brief an einen Baum von Eva Horstmann
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