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Wenige haben so viele Grenzen hinter sich gelassen wie wir

Erinnerungen an  Helga M. Novak in Polen und andernorts

Ich hörte von dieser deutschen Dichterin das erste Mal in Jena. Wir sprechen von 1973, um einen Ausdruck von Helga Novak zu benutzen. Ich war nach Jena gekommen, um dort Freunde kennenzulernen, und lebte in einer Wohngemeinschaft, nachdem ich meinem Elternhaus entflogen war, nach der Armeezeit, nach einem seltsamen Gespräch mit dem Gewerkschaftsvorsitzenden einer großen Chemiefabrik, einem in jeder Hinsicht zwerghaften Menschen, der mir sagte, ich sei ein schlechtes Aushängeschild meiner Eltern. Ich trug lange Haare und unter ihnen abweichende Ansichten.

Jürgen Fuchs las in seiner Dachkammer in der Lutherstraße ihre Gedichte vor. Ich sehe ihn noch vor mir, wie er sie mit jenem Leuchten in den Augen und Entdeckerfreude vorstellte. Welche Präsenz, Klarheit und kraftvolle Schönheit. Einem Funktionär ins Poesiealbum mit dem apodiktisch krassem Schluss: „ich habe am Ende / eine Frage: / wem gehört eigentlich / das Volkseigentum?“ blieb für immer im Gedächtnis, ebenso wie Jürgens anschließendes jungenhaftes Lachen. In einem unserer späteren Gespräche sagte er:

 

Da wird die Machtfrage gestellt.

 

Die DDR galt schon lange als Leseland, mit einigem Grund. Auch wir, aus der Generation der offen Unzufriedenen, suchten Antworten in Büchern, vor allem in denen der Schriftsteller und Dichter der NachBrecht-Generation, manchmal enthusiastisch eine wirkliche Entdeckung begrüßend, oft genug enttäuscht. Helga Novak war von anderem Kaliber. Sie hatte nie die Schule der Sklavensprache absolviert. Was dort chiffrierte politische Botschaft war, sich poetisch raunend gebend, sprach sie offen, direkt, unverblümt aus. Ihre Poetik gewann so eine ganz andere Dynamik, deren Subtilität speiste sich aus anderen Quellen, war tiefer und wirkungsvoller. Sie war uns die ältere Schwester Wolf Biermanns. Das erste Mal begegnete ich ihr in Berlin bei einem Treffen mit uns, den kürzlich – 1977, im Zuge der Ausbürgerung des Barden Wolf Biermann aus der DDR Ausgebürgerten, und unserer Vor-Gängerin, die bereits 1966 ausgebürgert worden war. Sie saß sehr aufrecht auf ihrem Stuhl, beeindruckend, schön, aufmerksam. Jürgen las Texte aus seinem

Buch Tagesnotizen, Gerulf Pannach und Kuno Kunert sangen. Helga sah sich unsere Arbeiten an, Texte von

Salli Sallmann, meine ersten Fotografien aus Westberlin. Sie fühlte sich offensichtlich wohl in dieser Gesellschaft junger Dissidenten, eine Kennzeichnung übrigens, die Vaclav Havel für sich ausdrücklich ablehnte, bedeute sie doch Andersdenkender, wo er schlicht ein Denkender sei. Aus unserer Unzufriedenheit mit den herrschenden Verhältnissen war Widerspruch geworden, Infragestellung und Zuwiderhandeln, wir waren einer sich entwickelnden Kultur des Widerstandes verpflichtet. Später zog Helga Novak aus Frankfurt am Main nach Westberlin, und das war auch eine Folge dieses Treffens. Sie sprach oft von ihren zuweilen frustrierenden Erfahrungen mit der westdeutschen Linken. „Wir lebten mit dem Rücken zur Mauer“, beschrieb der Westberliner Schriftsteller Peter Schneider deren, genau betrachtet tragische Grundhaltung – nach dem Fall jener Mauer. Helga wohnte nicht weit von mir entfernt, und auf meinen Streifzügen durch die Stadt, meinen social studies, besuchte ich sie bisweilen. An ihrer Wohnungstür war diesmal ein Zettel angebracht:

 

Bitte stark klopfen, ich bin tot!

 

Ich klopfte, stark. Nachdem sie mich hereingelassen hatte, bettete sie sich wieder auf ihr Sofa und sagte nach einer Weile, als ob sie aus einem Traum aufgewacht sei:

Bernd, ich weiß, dass ihr es nicht leicht hattet, dass auch ihr einiges durchmachen musstet. Aber Du kannst Dir nicht vorstellen, niemand von euch kann sich vorstellen, wie die fünfziger Jahre waren.

Sie sprach in Großbuchstaben. Eindringlich. Sie wollte, dass ich etwas von dem nachfühlte, was sie erfahren hatte.

Es war entsetzlich. Stell dir vor, Du bist in einem Saal voller Studenten, einer Vollversammlung. Sie alle sitzen vor Dir, denn Du sitzt auf dem Podium, zur Verurteilung freigegeben, in diesem Fall zur

Exmatrikulation. Die Beschuldigungen gegen dich werden vorgetragen. Du hast kein Recht zu antworten. Das Urteil wird verkündet. In Frageform. Seid ihr dafür, dass? Und nicht eine Hand, die sich nicht erhoben hätte. Und der Saal tobt und brüllt: In die Produktion! In die Produktion!

Solche An-Sprachen durchzogen und markierten unsere Freundschaft und ich kann mir gut vorstellen, dass die wohltemperierten Gemüter der bürgerlichen Linken solche Rede nicht goutierten. Sie hatte viele Freunde in der Berliner Kulturszene (eines der Wörter, das ich zu lernen hatte), von denen ich die Malerin Natascha Ungeheuer und deren Mann, den Schriftsteller Johannes Schenk, besonders ins Herz schloss. Auf unseren nächtlichen Colloquien wurde ich auf abenteuerliche Reisen mitgenommen, zur See auf einem Rettungsboot bis Casablanca (Johannes Schenk), durch Irland und Finnland (Natascha Ungeheuer) und zu Fuß – ich sank am Straßenrand vor Erschöpfung einfach um – nach Palermo und Barcelona (Helga Novak). Eines Tages, Ende der achtziger Jahre, bat sie mich, sie auf eine wirkliche Reise nach Jugoslawien zu begleiten, wo sie auf der Insel Korčula gemeinsam mit einer Frankfurter Freundin eine Sommerwohnung gemietet hatte. An vereinbartem Tag zu vereinbarter Stunde ging ich zu benannter Wohnung, die einem polnischen Skipper gehörte. Ich klingelte. Nichts. Ich klopfte. Ich erinnerte mich: stark klopfen. Schließlich erschien sie, etwas derangiert, doch mit überschießender guter Laune, packte einen Korb voll mit Proviant, überreichte mir die Autoschlüssel und wir bretterten in einem Moskwitsch, der dem polnischen Skipper gehörte, bei schönstem Sommerwetter und offenen Seitenscheiben über die Avus bis zur Grenzkontrolle. Eine Frage, die hier routinemäßig gestellt wurde, lautete: „Waffen, Sprengstoff, Munition?“ Kuno Kunert fragte irgendwann im breitesten Sächsisch zurück:

 

Nee, braucht man das hier?

 

Als wir anhielten, war Helga sehr blass und griff nach hinten in den Proviantkorb, zog eine Wodkaflasche heraus und nahm einen kräftigen Schluck. Die Sonne brannte. Wir standen in der Schlange, zwei Wagen vor uns bis zum Kontroll-Häuschen. Sie öffnete die Autotür, lehnte sich hinaus und erbrach sich. Es war ihr peinlich. „Es gibt keinen geeigneteren Ort, um zu kotzen, als hier“, sagte ich. Dann fuhren wir durch die Brandenburger Kiefernwälder und Helga wies hinaus und rief:

 

Die Wälder meiner Kindheit!

 

Es war das erste Mal, dass ich sie ihrer besonderen Liebe zum Wald Ausdruck verleihen hörte. In Bayern verabschiedete sich ein Radlager, das ersetzt werden musste, wir durchquerten Österreich, Slowenien und erreichten Rijeka. Am Hafen schaute ich auf das Profil einer Insel, die vollkommen nackt erschien, steinig, ohne Wald, sie nach einer Fähre, da ihr Autofahren zu anstrengend war und weil sie in einem Restaurant einen Reisebegleiter für die Überfahrt gefunden hatte. Später sprach sie über diese Begegnung, obwohl es mich eigentlich nichts anging. Sie sprach gern über sich, begleitete sich wie ihre eigene Reisebegleiterin auf ihren verschlungenen Lebenswegen.

 

Je öfter wir eine Geschichte erzählen, desto besser wird sie, bis wir sie irgendwann aufschreiben können.

 

Bis zu meinem Abschied aus Frankfurt war ich Horst Karasek treu. Du hast ihn ja kennen gelernt. Er war ein guter Mann, liebenswert und aufrichtig. Er war die letzten Jahre sehr krank, musste regelmäßig zur Dialyse, und ich habe ihn gepflegt. Seit Jahren hatten wir eine Beziehung ohne Sex. Ich war so treu, dass ich krank wurde. Kennst du das, die Schaufensterkrankheit?

 

Nein, diese Krankheit kannte ich nicht.

 

Ich blieb von Zeit zu Zeit vor einem Schaufenster stehen, weil ich nicht mehr laufen konnte. Um nicht aufzufallen, wandte ich mich irgendeinem Schaufenster zu. Ich, die ich Hunderte von Kilometern am Stück zu Fuß gelaufen bin! Nicht mehr einige Hunderte Meter laufen können, ohne ins Stocken zu geraten! Es wurde mir klar, dass ich weg musste. Dann tauchtet ihr auf, und Berlin wurde eine Option. Erst dann konnte ich mir Liebhaber vorstellen, erst dann merkte ich, wie sehr das gefehlt hatte.

 

Von Rijeka aus fuhr ich allein weiter, lernte den intensiven Duft mittelmeerischer Kiefern kennen, Dörfer mit Hühnern auf der Straße und im Wald, karge Berge mit Büschen bestanden, von einer Ziegenherde durchzogen und einem einsamen Hirten. In Split traf ich Helga wieder, gelöst, jung und bereit für andere Abenteuer. Wir setzten mit einer Fähre über, und als wir uns der Insel Korćula näherten, lag die unter einer Rauchwolke. Wir gingen an Land und bald begegneten uns überall Feuerwehren. Der ganze bewaldete Teil der Insel brannte. Später wurde bekannt, dass dieser Waldbrand von einem Bauern verursacht worden war, der seinen Olivenbaum, den er loswerden wollte, in Brand gesetzt hatte, anstatt ihn zu fällen.

Helgas Domizil lag in Zavalatica, in einer Bucht ohne Rauch und Waldbrand unweit eines kleinen

Fischerhafens. Sie richtete sich häuslich ein, ich ging die Gegend erforschen. Macchia, diese Landschaft aus trockenen und stacheligen Büschen auf steinigem Grund unter eigentlich zu viel Sonne, kannte ich auch noch nicht. Wenn ich zurückkam, wollte sie genau wissen, wo ich gewesen war und was ich gesehen hatte. Abends fuhren wir, manchmal in Begleitung ihrer Frankfurter Freundin in Bars, wo die Fischer melodiöse Lieder sangen. Ihre Freundin, eine ehemalige Maoistin, ging zu Treffen mit lokalen Parteiführern, Wahlen standen bevor, doch alles war seltsam geheim und sie selbst merkwürdig eifrig. Ich hörte den Namen Milošević wie ein Versprechen, eine Art Vorspeise. Etwas bereitete sich vor, es roch brandig, ganz ohne Waldbrand. An einem Feiertag nahmen wir an einem organisierten Ausflug auf einem Boot zur Insel Lastovo teil. In einer abgelegenen Bucht wurde dem Partisanenkampf gegen die deutschen Nazitruppen gedacht. Helga sagte, dass hier ein Zentrum, ein Versteck und Waffenlager der Partisanen gewesen war. Ein jüngerer Lokalpolitiker hielt eine Ansprache vor roten Fahnen, dann wurden Partisanenlieder gesungen. Eine alte Frau, überlebende Partisanin sang voller Emphase eine beschwörende feierliche Klage. Das Foto, das ich von ihr machte, ging in mein Œuvre ein.

Einige Tage später übergab mir Helga die Autoschlüssel und Geld für die Rückfahrt mit der Anweisung, wo in Berlin ich es abstellen solle und in welchem Briefkasten die Schlüssel zu deponieren seien. Sie wolle schreiben, und da könne ich nur stören. Die Route konnte ich nach Gutdünken gestalten, ohne Zeitdruck. Sie erwähnte Dubrovnik als sehenswerte Stadt am Meer. Und dort fuhr ich auch zuerst hin. Es wurde eine abenteuerliche Begegnung. Ich traf abends ein und parkte das Auto an einem Abhang über der Stadt, mit Blick auf den Hafen und die Stadtmauer, unter einer hohen Agave. Nachts kam ein orkanartiger Sturm auf, der das Auto und mich in ihm heftig durchschüttelte. Die dünne Agave vor mir verneigte sich tief vor dem Sturm. Als ich später Helga davon berichtete, erzählte sie mir, wie sie einst auf Island in einen Sturm geraten war, der sie von einer Mole zu fegen drohte.

 

Ich arbeitete in der Fischfabrik. Und wie immer ging ich in der Mittagspause hinaus auf diese Mole aus großen Bruchsteinen, die sich nicht weit von der Fabrik entfernt ins Meer streckte. Der Himmel war grau, nichts deutete auf ein Unwetter hin, als dicke Wolkenbüschel mit großer Geschwindigkeit aufzogen und sich verdichteten. Unvermittelt kam ein solcher Sturm auf, gewaltig brausend, dass mir mulmig wurde. Kittel und Schürze, meine Arbeitskleidung, klatschten mir um die Ohren. Zurück konnte ich nicht mehr. Ich bückte mich, fand eine Lücke und klemmte mich zwischen die Steine. Als der Sturm abflaute, kletterte ich heraus, etwas benommen und zerzaust, aber lebendig. Ich hatte alles richtig gemacht. Nur zur Arbeit erschien ich verspätet.

 

– „Wie haben Deine Kolleginnen reagiert?“ – „Sie rissen Augen und Mäuler auf. Wo kommst du denn her? Wir dachten schon, du bist tot. Na, so schnell geht das bei mir nicht.“

Am nächsten Tag umwanderte ich auf der mittelalterlichen Stadtmauer das Stadtzentrum von Dubrovnik. Auf dem zentralen Platz wurden Tribünen und eine Bühne für ein Theaterfestival errichtet. Die Stadt verwandelte sich vor meinen Augen in ein Theater, das nur aus Bildern und Geräuschen bestand, dem mittelalterlichen Ambiente angemessen. Das hohe Fenster eines Hotels flog auf und ein Mann rief laut mit erhobenen Armen den Namen seines Geliebten. Es war immer noch stürmisch, das Meer außerhalb der Hafenmole zeigte weiße Schaumkronen auf den Wellen. Eine junge Schönheit ruderte, am Heck lehnend, eine Holzschaluppe, in der eine alte, schwarz gekleidete Frau saß, mit kräftigen Zügen in Richtung Meer. Der Leuchtturm am Ende der Mole war von hoher Gischt umspült. Ein junges Paar sprang Hand in Hand zwischen zwei Wellenberge hinter dem Leuchtturm und verschwand. Abends lief ich an einer Steinmauer entlang, als sich zwei grüne Katzenaugen näherten. Ich blieb stehen und die Katze stieg vorsichtig auf meine Schulter, dann auf meine Fototasche, wo sie sich niederließ, um mich ein Stück weit zu begleiteten. Am nächsten Tag machte ich mich wieder auf den Weg mit dem Gefühl, eigentlich alles gesehen zu haben, was diese Stadt zu bieten hatte. Ich überlegte, in den Kosovo zu fahren, doch das erschien mir zu weit. Ich fuhr nach Sarajewo.

Ich wusste nichts von den Ländergrenzen und ihrem Verlauf, ich hielt Jugoslawien für einen Bundesstaat ähnlich wie die Bundesrepublik. Als ich spätabends an eine Grenzkontrolle kam, war ich überrascht. Noch mehr überraschte mich, dass der offenbar einzige Grenzbeamte das Auto durchsuchte, ein Exemplar des Spiegel, als er es im Kofferraum fand, beschlagnahmen wollte. Ich sagte, ich hätte dieses Magazin in Zagreb gekauft, doch das war ihm egal. Hier, wohin ich einreisen wollte, könne ich es nicht einführen. Ich weiß nicht, ob er Deutsch lesen konnte, jedenfalls blieb er mit dem Magazin zurück. Sarajewo liegt in einem langgestreckten Tal, wie heute sicher mehr Menschen wissen als zu jener Zeit. Ich mochte diese Stadt, ihre Vielfältigkeit, die offensichtlich gelungene Mischung alter Kulturen. Abseits der Hochhausviertel, die sich von denen in Ostberlin nicht unterschieden, kam ich ins Viertel der Muslime. Ich betrat unbehindert Moscheen, nahm an der Fußwaschung teil, genoss die entspannte Atmosphäre und machte einige Fotos mit meiner kleinen diskreten Kamera. Dieses Viertel war sichtlich ärmlich, die Häuser alt, die Menschen schlenderten die Straßen entlang, Eile war hier offensichtlich unbekannt oder unüblich. Ich verließ Sarajewo nach drei Tagen und hatte keineswegs das Gefühl, alles gesehen zu haben, was diese Stadt zu bieten hatte. Ein unvergessliches Erlebnis auf der weiteren Fahrt war der Empfang von Radio Tirana in deutscher Sprache. Schon der martialische Jingle mit Trommelwirbel ließ ahnen, was kommt. Die Nachrichten, eine einzige Ansammlung von Feindverfluchung und Verfolgungswahn. Dann das Kulturprogramm, eine Revolutions-Oper. Die Sprecherin verkündete mit metallischer Stimme den Inhalt. Der erste Akt: das Volk leidet, der zweite Akt: es erhebt sich, der dritte Akt: die Revolution, der vierte Akt: sie siegt, und schließlich: das kommunistische Paradies. Und dies war auch alles wirklich – zu hören. Genauso, wie es verkündet worden war, da gab es kein Vertun. Großartig, ich lachte wohl zum ersten Mal auf dieser Reise. In Zagreb gelang mir ein weiteres Foto von einer älteren Frau, in Schürze vor der Häuserfront, ganz in der Pose der Hausmeisterin. Die Stadt selbst stieß mich ab, sie war grau, trotz heftigem Sonnenschein, mit roten und sonstigen Fahnen bestückt.

Bald nach dieser Reise kam die Wendezeit in Deutschland, überraschend, wirr, aufregend. Kurz darauf begann der Bürgerkrieg in Jugoslawien. Ich war erschüttert, die Städte, die ich voller Leben gekannt hatte, von Snipern und Kanonen beschossen und in Trümmer fallen zu sehen. Ein stärkerer Kontrast war kaum vorstellbar. Hier friedliche Revolution, eine für unzerstörbar gehaltene Mauer war gefallen, Wiedervereinigung, mit allen politischen Auseinandersetzungen und Widersprüchen; dort Krieg, Verwüstung, Leid und Tod und das Auseinanderbrechen von Kulturen und Ethnien, die lange friedlich zusammen gelebt und sich gegenseitig befruchtet hatten. In einem Dokumentarfilm von der Halbinsel Kamtschatka antwortete eine junge Frau auf die Frage, ob es Konflikte zwischen den verschiedenen Ethnien dort gäbe:

 

Menschen haben immer zusammen gelebt, egal wo sie herkamen oder zu welcher Volksgruppe sie gehörten. Wir haben hier mit niemandem Probleme. Wo es Konflikte gibt, sind sie von Politikern gewollt und gesteuert. 

 

Ich war in ihrer Wohnung, als Lilo Fuchs im Frühjahr 1990 diesen schönen Satz sagte:

Jetzt müssen sie mit ihrer Schande selber fertig werden.

Sie bezog sich auf die Hunderttausende ehemaligen Stasi-Spitzel, die von einem Tag auf den anderen ohne „Schutz und Schild“ dastanden. Leider war dem nicht ganz so, ihnen musste geholfen werden. Jürgen Fuchs fand in ingeniöser Suche in der schmutzigen Hinterlassenschaft der Stasi, deren Akten, eine überwältigende Zahl von Belegen, dass der bekannte Dichter und Kunst-Makler aus dem Prenzlauer Berg, Sascha Anderson, ein hochrangiger Spitzel gewesen war. Er veröffentlichte im Spiegel die vierteilige Serie „Landschaften der Lüge“ über Künstler und Schriftsteller im Stasi-Netz und schrieb in einer Fußnote fast entschuldigend über seine Enthüllungen in Sachen Anderson.

 

Du bist uns zu nahe gekommen.

 

Jürgen Fuchs hat die Wahrheit nicht plakativ breitgewalzt, sondern das Wichtigste in jene Fußnote gepackt – mit dem sarkastischen Understatement eines Dokumentars, der die Aufklärung der DDR-Geschichte wichtiger nimmt als die Entlarvung eines Spitzels. Wolf Biermann war da weniger akkurat, er entfachte 1991 einen Medienskandal, als er bei seiner Büchnerpreisrede Wochen vor der Veröffentlichung dieser

Artikelserie von „Sascha Arschloch, dem Stasispitzel“ sprach. „Enttäuschung ist etwas Positives: Ich bin nicht mehr ge-täuscht, ich bin ent-täuscht“, so sagte später Roland Jahn, heute Chef der Stasi-Unterlagenbehörde, damals von Anderson noch nach seiner Ausbürgerung in den Westen überwacht. Und er ergänzte:

 

Er muss die Last mit sich tragen, nicht ich.

 

Helga Novak reagierte überraschend anders.

Offener Brief an Wolf Biermann, Sarah Kirsch und Jürgen Fuchs: Wenn schon, denn schon – ich war auch mal ein Spitzel! Die „Einsamkeit der weißen Weste“ paßt mir also nicht. Seit Posen/Ungarn (’56) war ich dagegen. Nicht gegen den Kommunismus, aber gegen die asiatische Despotie. Ohne Herkunft, Studentin vor dem Staatsexamen, liiert mit einem isländischen Studenten – war ich erpreßbar. Und ich unterschrieb, September 57. Ich wollte nämlich nicht, wie Erich Loest, sieben Jahre in Bautzen sitzen, wo mir, da ich keine Familie, gar keine Blutsverwandten hatte, niemand auch nur eine Schachtel Zigaretten gebracht hätte. Die Scham beißt ein Leben lang, aber sie ist auch eine energische Lehrerin. Ihr seid auch mal in der Partei gewesen, genau wie ich. Zwar habe ich mir erlaubt auszutreten, was damals (’57) noch verboten war, doch Komplizen waren wir alle. Das kriegt Ihr nie raus, was ich alles weiß über Leute, mit denen wir befreundet sind. Und eher will ich im polnischen Wald verbluten, als mich auf einen deutschen Richterstuhl setzen.

 

Wieder war ich in der Wohnung zugegen, als Jürgen Fuchs, wütend über diesen Ausfall verkündete:

 

Das Tischtuch ist zerschnitten!

 

Ich konnte ihn verstehen, Helga zog eine langwierige und schwierige Recherche öffentlich in Zweifel.

Andererseits fand ich seine Reaktion überzogen. Zerschnittenes Tischtuch, das hörte sich eher nach Familienkrach an statt nach offener Auseinander-Setzung. Helgas Affront andererseits war ganz persönlich, geradezu panisch und aus meiner Sicht, der ich alle Beteiligten inklusive Sascha Anderson persönlich kannte, ebenso unangemessen wie Jürgens Reaktion, der „deutsche Richterstuhl“ eine anarchistische Plattitüde. Und was hatte Sarah Kirsch in der Liste der Adressaten dieses Briefes zu suchen? Ich kannte die Geschichte, wie sie in einer Stunde der Schwäche unterschrieben hatte („Ich wurde von einer Person bedrängt, der ich vertraute, aber ich werde dir den Namen nicht sagen“), um anschließend zu ihren isländischen

Studienfreunden (und ihrem Liebhaber) zu gehen und ihnen zu berichten, dass sie gezwungen werden sollte, sie zu bespitzeln – was dann zu ihrer Flucht nach Island führte.

Es dauerte bis zum Sommer 1992, als ich mich ins Auto setzte und zu ihr in ihren polnischen Wald fuhr. Das

Auto ratterte über die Betonplatten der Autobahn nach Polen, und ich dachte daran, wie viele Male ich den Umweg über Bayern und die Tschechoslowakei nehmen musste, wenn ich in den achtziger Jahren, der Zeit der Solidarność und der Solidarność im Untergrund nach Polen fuhr, erinnerte das eine Mal, als mich DDRGrenzbeamte am Bahnhof Friedrichstraße an den Haaren aus dem Zug nach Polen zogen, da bereits der

Transit durch das sozialistische Paradies für ausgewiesene Abtrünnige verboten war. Je näher ich Helgas Domizil kam, desto mehr faszinierte mich die Landschaft der Tucheler Heide. Sie war dichter und wahrer, älter ihrem Wesen nach und gleichzeitig jünger in ihrer Lebendigkeit als diejenigen Landschaften, die ich bisher kannte. Es waren die Wälder von Helga Novaks Kindheit, wie sie es in Brandenburg schon nicht mehr gab.

Bei diesem ersten Besuch wohnte sie noch zur Miete bei einem polnischen Bauern. Sie zeigte mir den Hof mit

Schwengelpumpe und Pferdestall, die Küche (hier kann man auf der Hühnerscheiße schlittern) und das Gästezimmer unter dem Dachfirst mit Regalen voller Bücher. Anton, ihr Wirt, spannte jeden Morgen den gummibereiften hölzernen Wagen an und fuhr über Sandwege in den Wald. Ich folgte ihm, bis ich ihn aus den Augen verlor und mich im Kiefernwald. Ein Buntspecht klopfte so nahe, dass ich ihn gut sehen konnte. Späne flogen ihm um den Kopf. Etwas weiter hämmerte ein anderer, ein Grünspecht. Der Wald war gepflegt, ich durchkreuzte ihn querwaldein auf weichem Boden. Plötzlich blieb ich stehen. Ein Fuchs, etwas entfernt zwischen den Stämmen, in seinem rötlichen Fell, lief in meine Richtung. Ich hockte mich hinter einen Baum und sah ihm zu. Er lief langsamer, fand offensichtlich seine Sasse und legte sich nieder. Nach und nach fielen ihm die Augen zu. Er schlief ein. Was sollte ich tun? Wenn ich einfach weiterging, würde ich ihn erschrecken. Ich pfiff leise. Der Fuchs rührte sich nicht. Ich pfiff etwas lauter, dann klatschte ich leicht in die Hände. Er wachte auf und schaute sich suchend um, allerdings nicht in meine Richtung. Ich trat langsam hinter dem Baum hervor. Er sah mich verwundert an und trottete schließlich davon. Bereichert ging ich zurück zum Haus.

Helga zeigte mir den Kanal und den Aquädukt bei Fojutowo, auf dem er über den Fluss Czerska Struga floss und erzählte die Geschichte seiner Entstehung. Er wurde von Preußen unter Friedrich Wilhelm IV. in der

Mitte des 18. Jahrhunderts erbaut, um die Czersker Wiesen zu bewässern, Heu zu verschiffen und Holz nach Brandenburg zu treideln. Deutsche und Polen lebten friedlich nebeneinander. Helga wies auf die sehr unterschiedlichen Charaktere ehemals deutscher Städte wie Tuchola, aufgeräumt mit Fachwerkhäusern, und polnischer wie Czersk, offensichtlich planlos erbaut, hin. Nachts fischte ich aus dem Bücherbord die Verserzählung von Solschenizyn Ostpreußische Nächte, die schonungslos von seinen Kriegserfahrungen, inklusive eigener Schuld berichtete. Am Morgen wachte ich verkatert auf. Ein schwerer Duft hatte mich des Nachts vom offenen Fenster her im Traum umfangen. Als ich hinausging, fand ich die Ursache: einen Wermutstrauch am staubigen Wegrand gegenüber dem Giebelfenster.

Eines Tages kam Anton mit einem Baumstamm auf dem Wagen zurück, der Lohn für seine Pflegearbeit im

Wald. Morgens hatte er Mühe, sein Pferd einzuspannen, es stieg wiehernd hoch und schlug mit den

Vorderbeinen aus, während Anton am Zügel mühsam das Gleichgewicht wahrte. „Der Hengst ist alt und will nicht mehr. Einer von beiden wird das nicht mehr lange machen“, sagte Helga. 

 

Anton wird ihn wohl bald erschießen müssen.

 

Warum gab er ihm nicht sein Gnadenbrot und suchte sich ein anderes Pferd? Diese Frage habe ich damals nicht gestellt. Es war, als ob das Gefühl, zu Gast zu sein, mir das Fragen verschlug. Dabei sind wir alle Gäste auf einer Zeitreise. Leider sind wenige in der Lage, zu verstehen, dass sie eines Tages unwiderruflich endet und mit ihr die Möglichkeit, die wichtigen Fragen zu stellen. Neben dem Hof stand eine alte, verwitterte Scheune, aus der das Heu duftete. Dahinter lag das weitgestreckte Tal mit Wiesen, durch das sich der Fluss schlängelte. Dort standen Reiher und liefen die Hasen. Wir fuhren auf den Wochenmarkt in Czersk. Zu jener Zeit gab es noch den Tauschhandel mit einheimischen Samen und Saatkartoffeln und jede Menge von Ständen mit einheimischem Gemüse und Obst. Helga liebte es, dort einzukaufen und die Verkäuferinnen liebten sie, es war ihr Auftritt. Sie grüßte jede laut und überschwänglich, wählte genau aus, was sie kaufen wollte, handelte scherzend und packte nach und nach die Taschen voll, die ich trug. „Der Markt ist die eigentliche Bühne des Sängers“, hatte mir Wolf Biermann einmal, noch in der DDR, gesagt, „dort kommt das Volk zusammen, dort muss er singen.“ Das war sein Traum, für Helga stimmte es, sie tanzte geradezu über ihn, da und dort ein angebotenes Glas mit Wodka runterkippend. Der Markt war ihre Bühne, nur eben nicht als Dichterin, sondern als lebenslustige und ebenso lebenserfahrene wie wissbegierige Frau. Es gab eine Reihe von Ständen mit Kleiderbergen, eine gerade aufkommende Massenerscheinung. Sie erklärte mir detailliert die Handels- und das hieß in den allermeisten Fällen Schmuggelwege aus Asien über Sibirien, Südeuropa nach Polen.

Bei meinem nächsten Besuch lernte ich Stefan kennen, Helgas polnischen Lebensgefährten. Ich erinnere Blau, ein intensives verwittertes Blau als Anstrich an den Wänden des Hauses, das Helga für ihn herrichten ließ. Und ich erinnere die Einweckgläser mit Rehschmalz auf dem Fensterbrett. Beide lagen auf dem Sofa und schliefen noch. Auf dem Kopfpolster der bordeauxroten Doppelcouch stand ein gefülltes Schnapsglas. Als Helga aufwachte, schaute sie es verwundert an und stellte es vorsichtig auf den Boden. „Das ist Stefan. Er ist der König des Waldes“, stellte sie ihn vor. „Eigentlich ist er ein Wilddieb, wie alle hier. Das ist ihre Tradition, genau wie Schnaps brennen. Sie sagen, das ist ihr Wald, die Preußen haben ihn sich angeeignet und ihnen das Jagen verbieten wollen, genau wie die Kommunisten.“ Wenn Stefan jagen ging, trank er nicht, genau wie Helga nicht trank, wenn sie schrieb. Jäger und Sammlerin. Sie versammelte Worte zu Gedichten. Aber schießen konnte sie auch. Sie sagte, er habe eine solche Ausstrahlung auf die Rehe, dass sie sich oft in eine Position stellten, als ob sie darauf warteten, dass er sie schieße.

 

Du glaubst mir natürlich nicht, aber ich habe es selbst gesehen.

 

Einmal hätten sie sich beide im Wald unvermutet getroffen und aufeinander angelegt. Stefan hatte ihr verboten, seinen Jagdpullover zu waschen, damit die Tiere im Wald ihn nicht als Fremdwesen wahrnahmen. Eines Tages war er ganz verstört von der Jagd zurückgekommen, weil er ein Reh nicht einmal zu Gesicht bekommen hatte.

 

Ich erinnerte mich, dass ich seinen Pullover versehentlich gewaschen hatte. Er hatte es nicht bemerkt, weil der Alkohol ihm den Geruchssinn genommen hat.

 

Stefan hatte einen Fischteich und für die Frischwasserzufuhr ein recht großes hölzernes Wasserrad mit Schöpfkellen gebaut, wie Helga stolz erklärte. Als ich es eines Tages sah, war es bereits im Zerfall begriffen und der Teich hatte auch schon keine größeren Fische mehr. Stefan war agil und herzlich. Er hatte ein Moped, mit dem er knatternd durch den Heidesand pflügte. Als ich ihm folgte, fand ich hohe Wacholder, manche so groß und innen offen, dass ich mich in sie hineinstellen konnte. Helga legte größten Wert auf eine gute, und das hieß bei ihr, menschliche und herzliche Beziehung zu ihren Nachbarn, ihren neuen Landsleuten. Sie sprach ihre Sprache, nicht perfekt, doch mit Ausdruck und ihnen nachempfundener Aussprache. Sie erzählte mir von einer alten Dame, die sie bis in deren Tod gepflegt hatte als ein prägendes Erlebnis, ihren Einstieg in ihr Leben in Polen. Sie zeigte mir das Holzhaus, in dem sie mit ihr gelebt hatte mit jener selbstgewissen Schlichtheit, die auch die Erzählung auszeichnet, die diese Begegnung beschreibt. Ihre nächsten Nachbarn, Edwin und Helena, lebten in einem etwas verwahrlosten Gehöft, auf dem Puter, Enten und Hühner frei herumliefen. Das Holzhaus hatte kleine Fenster und schiefe Bleche als Dach, das einst wohl strohgedeckt war. Edwin war klein, schlank, hatte ein feines Gesicht und trug eine Weste. Weiße Haarsträhnen fielen ihm in die Stirn. Helena war rotbäckig unter dem Kopftuch und trug über dem Kleid eine helle Schürze. Sie hatte eine Kuh, die sie jeden Morgen auf eine kleine Wiese am Fluss brachte. Ein alter Traktor stand auf dem Hof. Als ich mir ihn näher anschaute, holte Edwin eine ölbetriebene Lötlampe, hielt die Flamme unter den Motor, den er fünf Minuten später mithilfe einer Kurbel anließ. Stolz zeigte er mir seine Werkstatt. Jede Menge Werkzeuge, Staub und Ziehharmonikateile lagen auf einer alten Werkbank und den Fenstersimsen. Er hatte früher Ziehharmonikas repariert und auch gespielt. Ich fragte ihn, ob er etwas spielen könne, doch er hatte kein Instrument mehr, das intakt war. Aus einer alten Hohner, der viele

Stimmplatten fehlten, holte er ein paar Töne hervor, die ihren einstigen vollen Klang ahnen ließen. Seine Augen begannen zu leuchten und er erzählte von den alten Zeiten, als er mit seinen Freunden über die Dörfer zog und zum Tanz aufspielte. Ihr eigenes Haus war in Bau, und Helga zeigte mir stolz das umzäunte Grundstück und die Baustelle. Es war ein zweistöckiges Holzhaus. Sie betonte, dass sie das Grundstück zwar gekauft hatte, es aber nicht auf ihren Namen, sondern auf den von Edwins Enkel Adam eingetragen war. Helga sitzt auf der Bank vor ihrem großen Gartentisch. Als ich mich zu ihr setze, sagt sie:

 

Hier lebt eine Kröte, es ist ihr Zuhause. Du rührst sie nicht an. Ach, da ist sie ja. Sie will Dich wohl begrüßen.

 

Sie zeigt mir den Komposthaufen etwas entfernt von der Baumgruppe. Abschüssig, dort, wo sich die Breit- und Längsseite des Holzzauns in einer Senke treffen, stehen Büsche. Ich sehe dort hinunter.

 

Ich weiß, dass Du neugierig bist. Aber dort leben Igel, Marder, Iltis und ich weiß nicht was noch, die lässt Du in Ruhe, da gehst Du nicht hin. Wenn Du unbedingt Wildtiere aufstöbern willst, dann geh runter zum Fluss dort hinter dem Zaun. Dort leben Otter. Die hören Dich sofort und verschwinden.

 

Auf dem Weg durch das Tal auf eben jener Seite des Grundstücks sah ich eine Frau Kartoffeln stecken. „Das ist meine Nachbarin“, sagt Helga.

 

Im letzten Winter habe ich sie vor dem Erfrieren gerettet. Ich kam spät nach Hause und sah sie auf den Stufen sitzen. Offensichtlich war etwas mit ihr nicht in Ordnung, sie bewegte sich nicht. Ich ging zu ihr. Sie war auf den eisigen Stufen ausgerutscht und konnte nicht mehr aufstehen. Ich hob sie hoch und trug sie ins Haus. Wenn ich nicht gekommen wäre, wäre sie wohl in der Nacht erfroren, es war bitterkalt. In den nächsten Tagen habe ich sie gepflegt und ihr Essen gebracht. Die Chinesen sagen, wen du gerettet hast, für den bist du dein Leben lang verantwortlich.

 

Es war kurz nach Weihnachten, als ich sie das dritte Mal besuchte. Der Weg vor ihrem Haus war verschneit.

Ich war nachts aufgebrochen, und es dämmerte, als ich eintraf. Zu meiner Überraschung stand sie im Morgenrock auf dem Balkon im zweiten Stock ihres inzwischen fertiggestellten Hauses. „Bernd, bist du das?“ rief sie. „Ich wusste, dass Du kommst.“ Sie eilte hinunter, um mich zu umarmen.

 

Weißt Du, ich bin Frühaufsteherin, und jeden Morgen um fünf Uhr in der Frühe stehe ich auf dem Balkon, um meine Bäume zu zählen.

 

Sie machte es vor. Da stand eine Gruppe von vier hohen Sandbirken, die ihre Zweige im Wind baumeln ließen, und drei Kiefern.

 

Eins, zwei, drei… sie sind alle da, dann kann ich uns ja einen Kaffee machen.

 

Wir durchquerten den Wintergarten mit Bücherregal und kamen in eine große Küche, die die Breite der Stirnseite ihres Hauses einnahm. Sie zündete das Holz im Herd an und es wurde schnell warm. Wir saßen später viele Stunden an ihrem hölzernen Küchentisch und sprachen, diskutierten, stritten uns auch mal, rauchten, tranken und lachten. Sie hatte ein phänomenales Gedächtnis, nicht nur, was ihr eigenes Leben betraf. So erinnerte sie mich zum Beispiel daran, dass ich die Intervention der Nato in Serbien gerechtfertigt hatte, als ich ein Jahr später Zweifel bekundete.

 

Das hast Du aber auch mal anders gesehen, erinnerst Du Dich?

 

Mittlerweile gab es Hinweise, dass der Nato-Angriff, „der erste humanitäre Kriegseinsatz“ auf Serbien nebenher als Vorbereitung und Übungsfeld für asymmetrische Kriege gedient hatte. Sie wusste, dass ich nicht dazu neigte, einmal gewonnene Ansichten leicht zu ändern. „Weißt Du“, sagte sie, „von Zeit zu Zeit mache ich eine Inventur“, sie ließ ihre Hand um den Kopf kreisen.

 

Dann stelle ich alle meine Ansichten in Frage. Es kann sein, dass ich am Ende zum selben Ergebnis komme, wie vorher. Aber manchmal ändere ich meine Ansichten auch.

 

Helga verweigerte in ihrem Denken und ihrer Wahrnehmung jede Zentralperspektive, sie lebte in und von ihren inneren Bildern, den in ihr gespeicherten Negativen. Als Dichterin musste sie dieses innere Archiv gegen jede äußere Übernahme verteidigen, genauso wie ihr Namensgedächtnis, die Basis jeder Wortschöpfung. Ich erzählte ihr von jenem Moment, als ich in der Stasizelle beschloss, alle Namen zu vergessen, um niemanden verraten zu können. „Das hast Du getan?“ rief sie aus.

Weißt Du, was ich gemacht habe? Ich habe ihnen die tollsten Geschichten erzählt, von jedem, nach dem sie mich fragten. Hans? Na klar, den kenne ich gut, das ist mein Onkel mütterlicherseits, mit dem bin ich doch immer spazieren gegangen und geangelt haben wir auch… irgendwas, stundenlang, wenn es sein musste, bis sie abwinkten.

Ich denke, dass hier der tiefere Grund für ihren Protest gegen Biermanns und Jürgen Fuchs’

Aufklärungskampagne über Stasi-Spitzel im Kulturbetrieb der DDR lag. Ich habe sie in einem unserer Gespräche gefragt:

Warum hast Du diesen offenen Brief geschrieben?

Sie zog an ihrer Zigarette und dachte nach.

 

Weißt Du, ich dachte, das würde helfen, dass andere, die in die Falle geraten waren, sich auch bekannten. Nach dem Motto: Wenn die das kann, kann ich das auch. Was nützt das kollektive Fingerzeigen? Das ist doch früher mit uns auch gemacht worden.

 

Ich erzählte ihr von meiner Begegnung mit Sascha Anderson, den ich über Jahre zunächst aus der Nähe beobachten konnte und später in Gesprächen zu verstehen versuchte. Er war die Zentralfigur eines öffentlichen Skandals, den vor allem er selbst als eine öffentlich agierende, sich äußernde und Einfluss nehmende Figur verursacht hatte. In mancher Hinsicht ein Ausnahmefall, aber als solcher signifikant für den schleichenden Übergang des brutalen Freund-Feind-Schemas der fünfziger und sechziger Jahre in eine Ära raffinierter und weit erfolgreicherer Einflussnahme auf die öffentliche Meinung, gewissermaßen der Übergang von Orwell zu Huxley. Was nicht bedeutet, dass das Freund-Feind-Schema für Menschen, die außerhalb dieses Radius blieben, ausgeschaltet war. Im Gegenteil, zusätzlich wurde ihnen unterschoben, mitunter sogar in westlichen Medien, auch von Sascha Anderson, die Feindrolle selbst gewählt zu haben. Ich war Anderson bereits 1986 begegnet, bei einer Geburtstagsfeier der Malerin Eve Rub in Westberlin. Sascha, der ein Faible für Eve ihres jüdischen Aussehens wegen hatte, erschien mit ein paar seiner Anhänger und einer Flasche Wodka. Er, der nie einen Finger für das Malerehepaar Frank und Eve Rub aus Jena gerührt hatte, machte bei ihnen vielschweigend auf Wichtig. Sie waren Freunde von Dissidenten wie mir, Roland Jahn und Jürgen Fuchs, hatten sich an Friedens-Demonstrationen in Jena beteiligt und waren damit für ihn verbrannt. Ich war sauer und fragte ihn laut:

 

Na, Sascha, was macht’s Geschäftle?

 

Er wurde rot und blieb nicht lange. Anderson war in seiner Tripelrolle als Makler, Spitzel und

Einflussnehmer auf die öffentliche Debatte der Vorwendezeit ganz Zeitgeist und in gewisser Hinsicht

Vorläufer. Jeder Satellit hat einen Killersatelliten heißt bedeutungsvoll ein Buchtitel von ihm. Da auch Killersatelliten Satelliten sind, ist dies das Szenario einer endlosen Verfolgung. Was später im Übergang von reiner Produktwerbung zu Kunstprodukt mit eingebetteter „Information“ aufstieg, von analoger

Überwachung zu umfassender digitaler Überwachung mit zieloffener, politischer wie ökonomischer

Anwendung, zur Gleichsetzung von Reisen mit Tourismusindustrie, von Kultur mit Kommerz, war in seiner Figur angelegt. Insofern hat die Frage, ob er ein guter Dichter sei, wenig Relevanz. Die Falle, in die er nicht einfach geraten war, sondern mit konstruiert hatte, funktioniert perspektivisch reziprok umgekehrt wie in einem Film, bei der sich die Kamera rückwärts bewegt und gleichzeitig nach vorn zoomt. Er hat ein Netz um sich gestrickt wie eine Fischreuse mit ihm als Köder im Mittelpunkt, wie könnte er es je verlassen? Selbst wenn die Fischer, für die er es konstruierte, es längst vom Haken lassen mussten, es treibt weiter im Ozean der Zeit, mit einem einzigem Insassen.

Helga fragte mich, ob ich meine Stasi-Akten gelesen hätte. Ich bejahte und berichtete Einzelheiten. Den

Ablauf, die Atmosphäre, den Aktenberg, der hereingeschoben wurde, was ich gefunden hatte, Verfolgung,

Lügen, Verrat, die geistige Öde, die sich in all dem gähnend ausbreitete, eigene Unvorsichtigkeiten, die Glanzlichter im Grau wie eine Serie von Zetteln mit weinerlichen Klagen des Bewachungspersonals im Stasiknast über mein unbotmäßiges Verhalten, die mich Lachen machten. Sie blieb skeptisch.

Ich weiß nicht, ob ich meine Akten sehen will.

Ich riet ihr zu.

 

Was hast Du zu verlieren? Du weißt doch alles.

 

„Eben darum muss ich sie nicht sehen. Ich brauche sie nicht.“

Was selbstverständlich nicht ausschloss, dass andere sie sehr wohl brauchen konnten, um reinen Tisch zu machen und Keller und Dachboden zu reinigen. Heute weiß ich, dass auch Helga schließlich ihre Akten gelesen und sie für sich brauchbar gemacht hat.

In einem unserer nächtelangen Gespräche erinnerte sie Westberlin, die wilde Buntheit der Stadt. „Ich mochte die Punker, sie haben der Stadt Farbe gegeben.“ „Ich mag sie eigentlich auch. Aber ich bin gegen Selbstzerstörung als Protestform.“ Sie sah mich überrascht an und schwieg lange. Ich hatte ein Thema angesprochen, das sie betraf.

Sie sah deutsches Fernsehen. Wenn ich von meinen langen Wanderungen kam und Lust auf ein Gespräch mit ihr hatte, lief der Fernseher. Ich beklagte mich und sie sagte:

 

Das lenkt ab und ich kann besser nachdenken.

 

Gern sah ich mit ihr die Nachrichten, die wir gewöhnlich kritisch-ironisch kommentierten, was sie mit dem Schlusssatz würzte:

 

Aber auf uns hört ja keiner.

 

Über die Jahre erzählte sie mir ihr abenteuerliches Leben.

 

Je mehr du erzählst, desto besser wird die Geschichte. Sie schreibt sich irgendwann von allein.

 

Ich fragte sie, wann sie angefangen hatte, zu trinken.

Mit acht Jahren. Der Krieg war vorbei und draußen spielte die Ziehharmonika, sangen, tanzten und soffen die russischen Soldaten am Lagerfeuer. Das war spannender als meine stocktrockene preußische

Stiefmutter. Ich ging dort hin, wo die Musik spielte, und die Soldaten gaben mir Schnaps. Der wärmte. Sie haben mir nie etwas getan. Auch später hat mich nie ein Mann angefasst, wenn ich das nicht wollte. Niemals. Nicht in den spelunkigsten Absteigen voller Matrosen in Schanghai, noch sonstwo.

 

Erinnerungen konnten sie überfallen wie Leuchtspurgeschosse.

 

Von meinem leiblichen Vater weiß ich fast nichts. Er hat seine Frau erschossen. Ich sehe Blutlachen im Hauseingang, die Treppe hinauf, alles voller Blut. Warum er sie erschossen hat? Weil er sich nicht entscheiden konnte zwischen den zwei Frauen, die er liebte. Und weil er Jäger war, er hatte ein Jagdgewehr.

 

Sie sprach von ihren gelegentlichen Wutanfällen. „Dann überschwemmt eine rote Welle mein Gehirn, so“, sie führte ihre Hand vom Hinterkopf bis über die Stirn.

Selbstverständlich hatte ich ihre ersten beiden autobiografischen Romane gelesen, Die Eisheiligen und Vogel federlos. Ihre Geschichten aus ihrem Mund zu hören, ihre krasse Direktheit, war ein so starkes Erlebnis, dass es alles, was ich zuvor von ihr wusste, in den Schatten stellte.

 

Mein erster Liebhaber war älter als ich. Er war ein Schriftsteller, ich werde dir seinen Namen nicht sagen. Er gab mir Bücher zu lesen, und von ihm habe ich viel gelernt. Eines der ersten Bücher, das ich las, war Hemingways Wem die Stunde schlägt. Als ich es gelesen hatte, hatte mir die Stunde geschlagen.

 

„Eisenhüttenstadt kennst Du ja.“ Ich hatte ihr erzählt, dass mein jüngerer Bruder Wolfgang dort viele Jahre gelebt und im Stahlwerk gearbeitet hatte.

 

Ich habe sie noch als Stalinstadt kennen gelernt. Das Eisenhüttenkombinat habe ich mit aufgebaut, als junge Frau, mit eigenen Händen. Es war unser Werk. Sag das Deinem Bruder.

 

Der war seit Jahren arbeitslos. Lange Zeit hat er mit diesem Verlierer-Los so sehr gehadert, dass er sich weigerte, Arbeitslosengeld zu beantragen. Erst als seine schwerbehinderte Frau mich alarmierte, konnte ich die Sache aufklären und ihm helfen einzufordern, was ihm zustand.

 

Schon damals war ich Frühaufsteherin, und eines sehr frühen Morgens sah ich Busse auf die Baustelle fahren. Solche Busse hatte ich nie zuvor gesehen. Nicht ihrer Bauart wegen, sondern wegen der Scheiben. Die waren zugeklebt, mit Zeitungspapier. Als ich genauer hinsah, bemerkte ich kleine Löcher im Papier, die von innen hineingekratzt waren. Ich ging den Bussen nach. Und ich sah, wie sich die Türen öffneten und Gefangene ausstiegen, die in Begleitung ihrer Bewacher ins Werk geführt wurden. Um dort zu arbeiten. Wo genau, das habe ich nicht herausbekommen. Also nicht nur wir, die enthusiastisch Freiwilligen haben das Werk aufgebaut, sondern auch Gefangene, die dort Zwangsarbeit verrichteten. Dennoch war es unser Werk, darauf bestehe ich. Sag das Deinem Bruder.

 

Offensichtlich gibt es Bestimmungen für uns, etwas, das jeden charakterisiert wie ein Zeichen. Mir haben

Freunde oft gesagt, dass ich auf Autoritäten, autoritäre Persönlichkeiten, wie ein Fixpunkt wirke und bei ihnen Beißreflexe auslöse. Jürgen Fuchs nannte es „das Aufsässige im Blick“, doch es war mehr, es funktionierte auch auf Distanz. Helgas Bestimmung war ihre unabdingbare Aufmerksamkeit, sie lief wie eine Blinde mit ausgestreckten inneren Fühlern auf das Verborgene zu, das nicht gesehen werden sollte. Und sie verleugnete nicht, was sie ungewollt entdeckt hatte, sie behielt es in Erinnerung.

 

Der Verband deutscher Schriftsteller hatte in den siebziger Jahren gute Beziehungen zu China, und es wurden regelmäßig Reisen dorthin veranstaltet. Einmal war auch ich dabei. Wir waren in einem

Gästehaus in einem großen Park untergebracht, sehr schön, ruhig und abgelegen. Nie gingen dort Einheimische entlang. Eines sehr frühen Morgens, ich bin ja Frühaufsteherin, ging ich allein spazieren, als ich plötzlich Schritte hörte. Nicht Schritte einer Person, sondern von vielen. Ich trat hinter einen Baum. Es zog eine Kolonne vorbei, eine Kolonne von Gefangenen, einer an den anderen gekettet, bewaffnet mit Rechen, Besen und Schubkarren. Die fegten den Park, vorn und hinten liefen die Aufseher. Niemand sprach. Als ich das später meinen Kollegen erzählte, wollten die mir nicht glauben. „Helga, nun übertreib mal nicht, Du hast zu viel Phantasie“, hieß es. Phantasie! Die müssen nur einmal so früh auf den Beinen sein wie ich, dann sehen sie auch mehr, als ihnen lieb ist. 

 

1962 war ich in Island. Ich lernte Dagur Sigurđarson kennen, wir wurden ein Liebespaar. Er war Dichter, sein erstes Buch wurde als Sensation aufgenommen. Aber in erster Linie war er Rebell. Und er hat großen Wert drauf gelegt, dass man es merkt. Und man hat es auch gemerkt, wenn er die Straße entlang lief. Er gehörte zum Stadtbild von Reykjavik. Eine bürgerliche Existenz war ihm so fremd und fern wie eine Reise zum Mars. Obwohl er nie ein Gymnasium besucht hat, hat er das Abitur mit Auszeichnung bestanden, einfach so. Zur feierlichen Urkundenverleihung, geradezu ein Staatsakt, erschien er in seiner gewöhnlichen Straßenkleidung, nimmt die Urkunde entgegen, knüllt sie zusammen und steckt sie in seine Jeanstasche. Er war ein geborener Anarchist, lange bevor das Wort in seinem aktiven Wortschatz auftauchte. Er war dreckig, saß in Kneipen herum, diskutierte, war öfter betrunken, fragte nach Geld, das man ihm auch wie selbstverständlich gab. Ich wusste nie, wo er wohnte, oder besser gesagt, hauste. Er wollte anecken. Ich glaube, wenn die Leute zu ihm freundlich gewesen wären, wär er einfach gestorben – aus Langeweile. Für mich war es wichtig, einen Dichter kennen zu lernen, der mich als Dichter anerkennt. Was heißt anerkennen, er sieht einfach, was Dichtung ist und was nicht. Er hat mich nicht zum Dichter gemacht, das war ich schon. Er hat mir Mut gemacht, es zu sein, trotz allem Hunger, gegen alle Widerstände, gerade durch. Dichter zu sein und dafür alles andre, wenn es sein musste, sausen zu lassen. Ich habe unendlich viel von ihm gelernt, nicht wie man schreibt, sondern durch sein Beispiel, seinen Lebensmut. Aber er hat mich auch mit Literatur bekannt gemacht, die ich ohne ihn nie entdeckt hätte. Wir waren das berühmteste Liebespaar in Island, sie nannten uns Nacht und Tag (Dagur heißt übersetzt Tag). Eines Tages sagten sie hinter uns her: „Solche Leute wie die sollte man verbrennen.“ Weil wir es gewagt hatten, auf der Straße, in der Öffentlichkeit, zu lachen. Das war nämlich verboten. Warum wir gelacht haben? Das darf man ja auch keinem erzählen – weil wir die Arbeiter im Hafen sahen, wie sie die Lasten von den Schiffen schleppten, wie langsam sie gingen, in Zeitlupe. 500 Jahre Kolonialgeschichte! Das will ja heute niemand mehr erinnern. Nein, die Wahrheit ist, dass es auch damals schon niemand sehen wollte. Halldor Laxness, Dagurs Onkel, sagte: „Ihr müsst hier raus, seht euch mal Palermo an.“

 

1963 setzt sie in Handsatz ihren ersten Gedichtband ostdeutsch, veröffentlicht ihn im Selbstverlag und schickt fünf Exemplare an fünf Verlage in der Bundesrepublik. Im November 1963 reist sie mit Dagur nach Sizilien.

 

Alles war grün, die Apfelsinen und Zitronenbäume blühten, es gab frei wachsende Palmen. Es gab

Landbesetzungen. Bei den Mafiosi haben wir Zigaretten erbettelt, auf dem Markt wartete ich, bis die

Stände abgeräumt waren und las heruntergefallene Spinatblätter auf. Mann, haben wir gelebt! Mann, haben wir gehungert! Bis hin zu Halluzinationen. Antonietta Kapitano hieß unsere Wirtin. Ihr Geliebter Franco. Mit dem sind wir hinausgefahren, um mit Dynamit zu fischen. Aus ihrer Kammer habe ich die langen Spaghetti geklaut. Das war ein Fest, da hatten wir zu essen. Wir waren stolz und wir waren hungrig. 1965 habe ich das in Deutschland erzählt, dass wir mit Dynamit gefischt haben, und wurde dafür verachtet. „Ihr habt vielleicht lange nicht gehungert, vielleicht nie“, sagte ich. Und dann haben sie mich dafür verachtet, dass ich gehungert habe.

 

Ich erzählte ihr von meinen Reisen nach Somalia, Bangladesch und Indien. Sie war eine aufmerksame Zuhörerin. Manchmal stellte sie Fragen, doch nie fragte sie, warum ich dorthin gereist war, das nahm sie als selbstverständlich. Ich berichtete vom Kommentar eines bekannten ungarischen Schriftstellers im Berliner Exil. Nachdem er meine Fotografien gesehen hatte, fragte er mich:

 

Was hast du da gemacht? Ekeltraining?

 

Das war Silvester 1992. „Stell dir mal vor, wie sie das für sich drehen“, sagte sie nachsinnend.

 

Wenige haben so viele Grenzen hinter sich gelassen wie wir.

 

1997 war ich wieder in Bangladesch und Indien, für sieben Monate, davon drei im Nordosten, wo ich in Meghalaya in einem abgelegenen Gebiet Tigermänner kennen lernte und heilige Wälder. In jenem Jahr sah ich Helga nicht. Später las ich ihren Gedichtband Silvatica, der in eben diesem Jahr erschien. Ich erkannte die Landschaft wieder, Stefan und sie selbst, im vollen Federschmuck ihrer Dichtung.

Ende der neunziger Jahre sprach sie mit mir über eine Kur. Ich sollte ihr helfen, ein geeignetes Sanatorium zu finden, nicht allzu teuer. Ich zog Erkundigungen ein und machte ihr Vorschläge. Am Ende fand sie selbst eins in Brandenburg. Drei Monate später fuhr ich sie mit ihrem ganzen Gepäck nach Hause, ihrem polnischen Zuhause. Stefan saß neben ihr auf der Rückbank. Er hatte Selbstgebrannten mitgebracht. Die flache Landschaft hinter der Grenze war schneebedeckt, der Himmel grau. „Schau“, rief Helga, „das ist die Gegend, aus der Christa Wolf stammt! Sie ist genauso Bach in ihren Büchern wie ihre Landschaft!“ „Ich kenne zumindest ein gutes Buch von ihr“, warf ich ein.

„Welches Buch sollte das sein?“

„Kein Ort, nirgends.“

„Ein gutes Buch von ihr ist wie ein Hügel in dieser endlosen Ödnis. Aber nicht einmal den gibt es hier.“ Und etwas später: „Ich werde euch zeigen, was Schreiben ist, ihr Muttersöhnchen. Ihr ewigen Muttermilchtrinker.“

Als wir angekommen waren und ich ihr half, den Hausrat in die Küche zu schaffen, trug sie einen schwarzen Stoffbeutel, den sie vorsichtig auf den Boden stellte und an die Wand lehnte. „Weißt du, was das ist“ fragte sie. „Nein, wie soll ich das wissen.“ „Du wüsstest es aber gern, oder?“  „Nun, was ist es“?

„Ich wusste doch, dass du es wissen willst, aber ich werde dir nur das sagen: Gedichte.

Und Gedichtanfänge. Du wirst sie aber erst zu Gesicht bekommen, wenn sie gedruckt sind.“ Ich verhehlte meine Freude nicht.

Meine letzte Reise zu ihr machte ich im Jahr 2000. Wir hatten verabredet, zusammen die polnische Grenze zu Weißrussland und der Ukraine abzufahren.

 

Etwas bereitet sich dort vor, ich trau Putin und den Russen nicht. Wenn da Krieg ausbricht, kommen die Flüchtlinge zu uns. Ich habe Stefan gefragt, was wir machen sollen, wenn die Flüchtlinge kommen. „Du hast ein großes Haus, wir nehmen sie auf“, hat er geantwortet.

 

Sie lachte und war stolz auf ihn.

 

So einfach. Und er hat nur vier Jahre Grundschule absolviert.

 

Wir fuhren zusammen los, sie und Stefan in ihrem kleinen polski Fiat und ich vorneweg. Beide hatten wir Straßenkarten. In einer Pause verabredeten wir, uns in einem bestimmten Ort zu treffen. Sie trafen dort nie ein. Ich suchte sie stundenlang, fuhr zurück, die Strecken auf und ab, nichts. Ich beschloss, allein weiter zu fahren, schließlich musste ich ihnen den Weg zurück ja nicht zeigen. Es wurde eine gute Reise. Ich lernte gastfreundliche Polen kennen, trank mit ihnen Wodka, sah einem jungen Bauern zu, wie er mit seinem Pferd verrückte Übungen vorführte, als seien sie miteinander durch unsichtbare Schnüre verbunden, schlief in einem Haus, dessen Segen so schief hing, dass es das einzige im Dorf war, wo der männliche Storch auf dem Dach vergeblich um weiblichen Zuzug mit dem Schnabel klapperte. Lief auf Wildpfaden durch Wälder im

Grenzstreifen, über Waldmeisterteppiche mit blauen, duftenden Blüten. Fast tropischer Vogelgesang. Das Schild „Granica Państwa“. Was unterscheidet russischen Wald von polnischem? Von der russischen Seite rufen die Reiher. Entfernt riesige hölzerne Wachtürme. „Die Grenze ist der Ort, den die Menschen nicht kennen“, sagt Pier Paolo Pasolini. Ich fand armselige Dörfer, die im Osten Polens offenbar besonders häufig waren, und in Museen verwandelte Bauernhöfe, die aus nichts weiter bestanden, als an getünchten

Hausmauern befestigtem Ackergerät und dem am Tor befestigtem Schild „Muzeum“. Als ich nach etwa einer Woche zu Helgas Haus zurückkam, stellte sich heraus, dass Stefan Schuld an ihrem spurlosen Verschwinden gehabt habe.

 

Er hat die ganze Zeit so viel getrunken, dass er nicht weiterfahren konnte. Wir haben uns einfach irgendwo einquartiert und sind am nächsten Tag zurückgefahren.

 

Ich erzählte ihr von meiner Reise. Fazit: keine Bewegungen auf der anderen Seite der Grenze, nichts Auffälliges. Helga wollte unbedingt die Fotografien sehen. Etwa einen Monat später kam ich mit einer vollen Fotoschachtel wieder. Ich erzähle und lese aus meinen Notizen vor.

 

Das ist doch ein Fotoroman. Hier hast Du ja wieder ein Gesicht fotografiert, ein Schrei! Und die Kombattantenmütze. Der war im Krieg, der hat gekämpft.

 

Einige Fotos später:

 

Dieses Elend. Wenn du es nicht fotografiert hättest, würde ich es immer nicht glauben. Was glauben die denn immer, warum ich Gedichte schreibe? Na gut, es kommt immer etwas dazu, Sinn, Erinnerung, Klang. Aber meine eigentliche Intuition, wenn ich Gedichte schreibe, ist Worte aufzuheben, die sonst verloren gehen. Im Grunde machst du ja auch nichts anderes, wenn du fotografierst. Nur, dass du nicht Worte bewahrst.

 

Ich erzähle von der Begegnung mit einem alten Paar. Deren Holzhaus lag direkt an der Grenze. Als der Mann hörte, ich sei Deutscher, stellte er das Transistorradio an. Der erste Satz, der aus ihm ertönte, lautete: „Wir werden sie zu einem Anachronismus machen“ Radio Moskau in deutscher Sprache

 

Und sie haben es schon gemacht. Du bist als Chronist mitten im Anachronismus.

 

Im Jahr 2001 verschlug mich das Schicksal, der Schicksalsschlag eines engen Freundes und seiner Tochter in eine andere Richtung, nach Portugal.

„Warum entdeckt denn keiner die Schönheit meines Verfalls?“ fragt die Dichterin Helga Novak in Silvatica.

Über ein Jahrzehnt sah ich ihre Schönheit auch im Verfall, und sie korrespondierte mit dem Verfall der Schönheit, der Schönheit des Verfalls um sie herum. Was mich an einem Satz Sándor Márais erinnert:

 

Dem Verfall einer Kultur beizuwohnen ist besser, als ihrem Neuaufbau.

 

Im Jahr 2000 beklagte sie sich:

 

Ich habe neunzig Prozent meiner Lebensqualität verloren.

 

Der holprige Weg, der an ihrem Haus vorbeiführte, war planiert, verbreitert und mit Kies bestreut worden. Mehrmals täglich fuhren Busse vorbei, um am Viadukt ihre menschliche Fracht für einen PicknickAufenthalt auszuladen und wieder zurück zu fahren. Waldstücke wurden abgeholzt.

 

Die katholische Kirche ging darin allen voran. Noch etwas: Du erinnerst dich an den Briefträger? 1)

Der geht jetzt rum und macht Propaganda für eine rechtsextreme Gruppierung.

 

Helga gab mir Themen zum Nachdenken wie Hausaufgaben mit:

 

Die überflüssigen Menschen. Das ist das große Thema der Zukunft. Es hat auch mit den Verhungernden zu tun, aber genauso mit den Arbeitslosen und den Flüchtlingen. Und mit uns.

 

Einmal sahen wir im Fernsehen eine Reportage über zwei Schweizer, die Geld einsammelten, um in Afrika Sklaven freizukaufen. Ein hartes Geschäft in jeder Hinsicht, doch sie hatten eine hohe Erfolgsquote. Helga drehte sich zu mir um und sagte:

 

Die haben ihre Lebensaufgabe gefunden.

 

Inzwischen habe auch ich meine Lebensaufgabe gefunden, die vielleicht härteste Aufgabe, die ich je übernommen habe: die Erschaffung und Verteidigung des einheimischen Waldes in Portugal, diesem zu Eukalyptus-Monokulturen und Waldbränden verurteilten Land an Europas westlichstem Ende. Inzwischen habe auch ich meine Lebensaufgabe gefunden, die vielleicht härteste Aufgabe, die ich je übernommen habe: die Erschaffung und Verteidigung des einheimischen Waldes in Portugal, diesem zu Eukalyptus- Monokulturen und Waldbränden verurteilten Land an Europas westlichem Rand.

Vila Nova de Gaia, 7. 9. 2017

 

1) Der Briefträger wird in "Der Klimawandel und wir" noch einmal erwähnt. Dort heisst es:

". . . beim Nachdenken über historische Fallen und Wiederholungs- Schemata (ich wusste zuvor nicht, dass ich darin mit ihm (Adam MIchnik) übereinstimme: Adam Michnik "hat die Kernüberzeugung ... dass Geschichte nicht nur Vergangenheit ist, weil sie sich ständig wiederholt und eben nicht als Farce, wie Marx dachte, sondern als sich selbst", Paul Wilson, fiel mir ein, dass vor der Machtergreifung Hitlers in Polen bereits eine Diktatur herrschte. Wie Du weißt, besuchte ich Helga Novak bis zum Jahr 2000 regelmäßig in ihrem polnischen Domizil. Sie wies mich bei einem meiner letzten Besuche darauf hin, dass es Propagandisten extrem rechter Ideologie in ihrer Gegend gab, ihr wichtigster Vertreter war der örtliche Postbote. Ich hatte ihn gleich am Anfang meiner Reisen nach Legbąd besucht und fotografiert. Er wohnte mit seiner liebenswerten Frau und ihren drei Söhnen in einem schlichten Holzhaus. Es war Sommer, vor dem Eingang wehte eine weiße Gardine, die Jungs lagen Mittags im Bett. Jetzt "war er jemand", hatte "die rote Pille" geschluckt (Matrix, den totalen Durchblick) und sich sichtlich verändert, sein Gesicht war hart und abweisend geworden. "Faschismus wächst so lange von unten, bis er bei passender Gelegenheit von oben eingesetzt wird" 

in Marion Brandt (Hrsg.): Unterwegs und zurückgesehnt. Studien zum Werk von Helga M. Novak. Mit Erinnerungen an die Dichterin.  Wydawnictwo Uniwersytetu Gdańskiego, 2017
in Marion Brandt (Hrsg.): Unterwegs und zurückgesehnt. Studien zum Werk von Helga M. Novak. Mit Erinnerungen an die Dichterin. Wydawnictwo Uniwersytetu Gdańskiego, 2017

Der erste Gedichtband von Helga M. Novak erschienen als Privatedition in Island 1963 unter dem Titel Ostdeutsch. Sie setzte und band die hundert Exemplare selbst.


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Kommentare: 2
  • #1

    Siegfried Reiprich (Freitag, 17 April 2020 07:05)

    Lieber Bernd,
    vielen Dank für diesen Text und Deine Fotos.

    Herzlich, Siegfried

  • #2

    joachim goertz (Samstag, 13 Juni 2020 11:43)

    solche texte aus einem wald muss man blättern können. danke